„Von der Illusion einer objektiven Vergangenheitsbetrachtung lösen“ Interview mit der Gerda Henkel Stiftung

Interview mit Ralf Pröve und Sebastian Ernst über die Subjektivität historischen Erzählens von Moritz Binkele, Gerda Henkel Stiftung, 02.07.2024 https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/interview_proeve_ernst_subjektivitaet_geschichte

In unsicheren Zeiten haben Menschen oft ein stärkeres Bedürfnis nach Orientierung. Sie suchen sie in der Familie oder im Freundeskreis, in Religion und Spiritualität, in politischen Bewegungen oder „Life-Coaching“-Angeboten. Auch die Geschichte kann mit ihren Erzählungen zum Verständnis der Vergangenheit und Gegenwart beitragen, Leit- und Vorbilder aufzeigen, das kollektive Gedächtnis stärken und so Orientierung bieten. Gerne werden dabei „große“ Erzählungen bemüht, die Sinn stiften und Gemeinsamkeit herstellen sollen, etwa die Erzählung von der Demokratie, der Nation oder des Fortschritts. Dass dies der falsche Weg ist, davon sind Prof. Dr. Ralf Pröve und Dr. Sebastian Ernst überzeugt. Stattdessen fordern sie einen (selbst-)kritischen Umgang mit der Geschichte, gerade auch als Historikerinnen und Historiker. Gemeinsam haben die beiden Historiker ein Prozessmodell entwickelt, das dafür die Grundlage bilden soll. Wir haben mit ihnen über Selbstreflektion und die Erklärkraft der Geschichte gesprochen.

„Einbindung auf Augenhöhe“

L.I.S.A.: Herr Professor Pröve, Herr Dr. Ernst, Sie haben in Form eines Posters ein „konstruktivistisches Prozessmodell historischer Erkenntnisbildung“ vorgeschlagen. Was ist die zugrundeliegende Ausgangsthese des Prozessmodells?

Prof. Pröve / Dr. Ernst: Folgt man Befragungen von Schülerinnen und Schülern oder anderen diesbezüglichen Umfragen der letzten Jahre zum Schulfach Geschichte fällt ein merkwürdiges Missverhältnis auf. Einerseits wird der Unterricht als langweilig und öde beschrieben, andererseits gilt Geschichte als Fach grundsätzlich wiederum als sehr wichtig. Dieser Befund einer Bedeutsamkeit von Geschichte als Fach ist vollkommen zutreffend, weil diese einen wesentlichen Beitrag für politische und gesellschaftliche Legitimationsstrategien leistet. Mag Wladimir Putins aktuelle Lesart der russischen Geschichte auch ein besonders krasses, weil offensichtliches Beispiel dafür sein, so zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass Geschichte stets eine eigenwillige Interpretation ist und einem jeweils mehr oder weniger offen zu Tage tretenden Telos folgt. Denn Vergangenheit, begriffen als vergangene Zeit, stellt eine physikalische Größe dar, Geschichte aber eine Erzählung, die in Produktion und Rezeption maßgeblich von produzierenden und rezipierenden Faktoren abhängig ist und für allerhand Zwecke herhalten muss.

Problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass trotz vieler vollmundiger Bekundungen einer zunehmenden Kompetenzorientierung in den Studienordnungen und Lehrplänen im schulischen und universitären Alltagsgeschäft weiterhin auf die Vermittlung historischer Inhalte in Form eines Kanons an Daten, Fakten und bestimmten Standardinterpretationen fokussiert wird, der mittels Klausuren im Klassenzimmer wie auch im Hörsaal nach einem Richtig-Falsch-Schema abgefragt wird. Eine Erzählung wird folglich einfach durch eine andere Erzählung ersetzt. Zwar wird auf normativer Ebene durchaus auch die Einübung von Quellenkritik und anderer fachspezifischer Fähigkeiten wie Methodologie anvisiert, also der Konstruktionscharakter von Geschichte auf den ersten Blick scheinbar berücksichtigt. Bei genauerem Hinsehen jedoch werden die Konstruktionsbedingungen und vor allem die eigene Rolle im Konstruktionsprozess völlig unzureichend reflektiert. Mit anderen Worten: Das Zustandekommen von historischer Erkenntnis offen zu legen, also selber denken zu lernen, somit zu lernen, sich beim Denken zuzusehen, wird eben nicht eingeübt. Gerade diese spezielle Theorie- und Reflexionsarmut wird bemerkenswerter Weise auch von SchülerInnen und Studierenden unisono immer wieder beklagt.

Erst vor dem Hintergrund sozialkonstruktivistischer Grundideen und der gelebten Technik der Selbstreflektion können erzählende Engführungen aufgebrochen, Authentifizierungsstrategien entlarvt und Manipulationsversuche erkannt werden. Zugleich werden Schülerinnen und Schüler wie Studierende auf eine vollkommen neue Weise in das Unterrichtsgeschehen, sozusagen auf Augenhöhe, eingebunden und vergangene Epochen nicht mehr als museale und verstaubte, eben langweilige und losgelöst von dem eigenen Selbst befindliche Entitäten dargeboten.

L.I.S.A.: Warum haben Sie dafür das Format eines Posters gewählt?

Pröve / Ernst: Um Schülerinnen und Schüler und Studierende in ihrer Lebenswelt abzuholen und aktuelle Sehgewohnheiten stärker aufzugreifen, haben wir uns zusammen mit unserem Kollegen Jannis M. Krieger dazu entschieden, unser Konzept von Geschichte und deren Konstruktionsprozess statt in der üblichen Form eines wissenschaftlich abgehobenen Aufsatzes in das bildhafte Medium eines Posters zu gießen; dieses ist kostenfrei online erhältlich. 

Konstruktivistisches Prozessmodell Historischer Erkenntnisbildung von Sebastian Ernst, Ralf Pröve, Jannis M. Krieger

„Die eigene Rolle in diesen Prozessen wird vielmehr sogar bewusst verschwiegen“

L.I.S.A.: Als Ergebnis Ihres Posters formulieren Sie die Forderung, „sich selbst beim Denken zuzusehen“. Was meinen Sie damit? Welche Rolle spielt das von Ihnen vorgeschlagene Prozessmodell dabei?

Pröve / Ernst: Blicken wir zunächst noch einmal auf die DNA des Faches Geschichte. Gängige Vorstellung ist, dass Historikerinnen und Historiker auf der Arbeitsgrundlage von Quellen Geschichte(n) produzieren, eigentlich konstruieren und diese in Zahlen, Daten und Fakten gießen. Die diesen Vorgängen zugrundeliegenden Tätigkeiten am Schreibtisch, also das Einordnen und Interpretieren, mithin die Bildung sowohl kaum sichtbarer, sozusagen sublimer Bewertungen wie auch von weitreichenden Schlussfolgerungen, bleiben dabei merkwürdig nebulös und intransparent. Denn die Schritte zur Erkenntnisgenerierung werden weder dem Leser bedingungslos offengelegt noch werden diese ausreichend vom Autor beim Denken und Schreiben in Rechnung gestellt. Ganz im Gegenteil, die eigene Rolle in diesen Prozessen wird vielmehr sogar bewusst verschwiegen, und unter dem Duktus der Vermeidung des Ich-Pronomens auf eine Objektivierung im Sinne einer vermeintlich höheren Bedeutsamkeit der produzierten Ergebnisse gezielt. In einem bemerkenswerten Sammelband von 2015 („Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften“, herausgegeben von Stefan Haas und Clemens Wischermann) wird von den Beiträgern diesbezüglich vollkommen zu Recht von einer Selbstbeschweigung der Historikerinnen und Historiker gesprochen und zugleich die damit zusammenhängende Verfahrensarmut des Faches unmissverständlich offengelegt. Von Wischermann stammt denn auch der markante Ausspruch „Sich selbst beim Denken zuzusehen, gehört leider noch nicht zu den vermittelten Kernkompetenzen eines Geschichtsstudiums.“

„Verstehen können, was Historiographie tatsächlich tut“

L.I.S.A.: Wie könnte Ihr Prozessmodell Historikerinnen und Historikern dabei helfen, sich beim Denken zuzusehen?

Pröve / Ernst: Indem wir die Probleme sichtbar machen und überwinden helfen. Einzelne Einflussfaktoren werden in dem Prozessmodell gezielt aufgegriffen, visualisiert und auf diese Weise ins Bewusstsein gerufen. Dabei geht es um den ganzen Menschen, dessen Denken, Fühlen und Handeln und eben auch dessen historiographischem Schreiben. Dieses Schreiben unterliegt nämlich komplexen universitätssystemischen, fach- und diskursspezifischen, biographischen und soziokulturellen Faktoren und findet in verschiedenen Erfahrungsräumen und sozialen Feldern statt.

Das Prozessmodell dient also vor allem als Gerüst, mit dem sich jene Offenlegung der Entstehungsbedingungen von Bewertungen und eine sich daraus ergebende notwendige Selbstthematisierung anregen lässt. Es geht uns also weniger um Historisches Lernen als vielmehr darum, verstehen zu können, was Historiographie unserer Meinung nach tatsächlich tut, was also WIR darüber denken. Darüber hinaus plädieren wir auf diese Weise für kulturelle Vielfalt, regen zu mehr Medienkompetenz an, die ausdrücklich historiographische Arbeiten, aber eben auch dezidiert die Rolle der dozierenden Person im Hörsaal und Klassenzimmer umfassen soll, und setzen uns dafür ein, auf diesem Wege die Lebenswelten der Lernenden ganz gezielt zu berücksichtigen.

L.I.S.A.: Und wie sieht es im Geschichtsunterricht aus?

Pröve / Ernst: Geschichtswissenschaft, universitäre Lehre und schulische Vermittlung von Geschichte gehen zwar einerseits Hand in Hand; andererseits wird aus verschiedenen Motiven heraus aber auch eine scheinbar (zu) eindeutige Grenzlinie zwischen Schule und Universität gezogen. Es ist zu überlegen, ob diese strikte Grenzziehung so sinnvoll ist. Zum einen sind nämlich didaktische Praktiken und ein Mindestmaß an Vermittlungskompetenz im Hörsaal genauso wichtig wie die Einübung erkenntnistheoretischer und methodologischer Vorgänge im Klassenzimmer. Zum anderen ist die Darstellung und Einübung von historischen Sachverhalten nicht wirklich sinnvoll, ohne auch über das Zustandekommen dieser Interpretationen in Schule und Universität nachzudenken.

„Der Finger wird aber gerade nicht auf andere gerichtet, sondern zunächst auf uns selbst“

L.I.S.A.: Können Sie ein Beispiel für die didaktische universitäre Umsetzung geben?

Pröve / Ernst: Wir haben gemeinsam das Lehr-Konzept vom Historiographietheater entwickelt, das über das bereits bestehende Modell des Geschichtstheaters hinausgeht. In diesen entsprechenden Lehrveranstaltungen versuchen wir, das persönliche und emotionale Erlebnis des Geschichtstheaters und dessen emanzipatorischen Effekte mit einer geschichtswissenschaftlichen Reflexion zu verbinden. Dem Historiographietheater geht es darum, dass sich die Darstellenden als Konstrukteurinnen und Konstrukteure von Geschichte in ihrer jeweiligen gegenwärtigen, gesellschaftlich geprägten Verfasstheit erleben. Der eigene Körper dient dann nicht dazu, Erkenntnisse über vergangene Lebenswelten zu erzeugen, sondern implizite Wissensbestände bzw. Vorstellungen über (historische) AkteurInnen und Gesellschaften sichtbar zu machen sowie die eigene Kultur durch den Blick auf das Andere zu spiegeln und so zu thematisieren. Die Basis des historiographietheatralen Spiels bilden dabei historische Quellen. Dabei sollten solche Materialien ausgewählt werden, in denen alltägliche und heute noch gebräuchliche Begriffe auftauchen und, weil deren Inhalte scheinbar bekannt seien, überlesen oder unbemerkt mit den eigenen Wissensbeständen aufgefüllt werden. Betrachten wir diese Wissensbestände im Spiel mit den Quellen, so können wir uns selbst als in bestimmten geschichtsphilosophischen, erkenntnistheoretischen und sozialisatorischen (Vor-)Annahmen operierende Konstrukteure einer historischen Erzählung erfahren. Was wir sehen sind wir also selbst. Damit eröffnet das Historiographietheater die Möglichkeit zu einer umfassenden Kritik. Der Finger wird aber gerade nicht auf andere gerichtet, sondern zunächst auf uns selbst und auf diejenigen gesellschaftlichen Aspekte, die in uns tatsächlich wirksam werden. Entsprechend kann Veränderung auch dann nur bei uns selbst ansetzen.

„Der Anspruch, eine wahre Geschichte über die Vergangenheit erzählen zu können, wird aufgegeben“

L.I.S.A.: Läuft man mit einer solchen Herangehensweise nicht möglicherweise in die Falle der Selbstreferenzialität? Wie kann sichergestellt werden, dass historische Erzählungen nicht zu subjektiv werden oder persönliche Vorurteile und Perspektiven übermäßig Einfluss nehmen?

Pröve / Ernst: Auf alle Texte, die Menschen produzieren, trifft diese Selbstreferenzialität zu. Somit sind auch alle historischen Erzählungen stets perspektivisch: Sie sind von persönlichen Werthaltungen geprägt und unterliegen Beeinflussungsfaktoren unterschiedlicher Reichweiten. An dieser Stelle wäre zum Beispiel an die fundamentale Bedeutung von Sprache und Sprachgebrauch zu denken, frei nach dem Bonmot des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951): „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. Folgt man gängigen evolutionsbiologischen, kulturanthropologischen und psychosozialen Grundannahmen, so ist es uns letztlich als Menschen überhaupt nicht möglich, uns gänzlich von uns selbst zu abstrahieren. Alle Beobachtungen, so der Biologe Humberto R. Maturana (1928–2021), werden nun einmal von Beobachtern gemacht; als solche sind wir immer Teil der Welt, stehen also niemals außerhalb dieser Welt. Objektivität, so wiederum der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster (1911–2002), sei daher lediglich die „Wahnvorstellung“, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden. Die hehren Ziele und wissenschaftlichen Ideale einer wertfreien, sozusagen vom Autor losgelösten objektiven Erkenntnis bleiben somit unerfüllbar.

Was sich hingegen vielmehr einlösen lässt, ist eine profunde wissenschaftliche Selbstreflektion, in der die eigene Rolle als Beobachterin oder Beobachter zu Tage gefördert und diese konsequent als zentrale Aufgabe am Schreibtisch offengelegt wird. Wir schaffen mit unserer Initiative die oben genannte Perspektivität also gar nicht selbst, sondern machen vielmehr ganz gezielt auf diesen immer schon bestehenden fundamentalen Aspekt der Erkenntnisgenerierung aufmerksam. Wir legen also lediglich sozusagen den Finger in die Wunde. Gerade das ist der Schlüssel, um jener Falle der Selbstreferenzialität entgehen zu können und den vermeintlich übermäßigen Einfluss der eigenen Person zu vermeiden. Nur wenn wir wissen, was wir eigentlich machen (in diesem Fall: denken und schreiben) und wie wir uns darin als Subjekte einbringen, können wir gezielter darauf reagieren.

Unsere Herangehensweise bedeutet dabei ausdrücklich keine Willkür. Es existieren auch weiterhin valide Gütekriterien für geschichtswissenschaftliche Erzählungen. Lediglich der Anspruch, eine wahre, vermeintlich objektive Geschichte über die Vergangenheit erzählen zu können, wird aufgegeben. Das Kriterium der Wahrheit wird ersetzt durch das der Viabilität. Viabilität meint in diesem Zusammenhang Gültigkeit, Brauchbarkeit und Funktionalität. Das schließt die Anschlussfähigkeit an die bisherige Forschung ebenso ein wie die Triftigkeit der gewählten Erzählung. Allerdings lässt sich Wissenschaftlichkeit nicht mehr nur durch Quellenbezug und Quellenkritik (Einbettung in Kontext, Berücksichtigung von Intention und Gattungsspezifika), Nachvollziehbarkeit der eigenen Methode und logische Argumentation herstellen. Hinzu kommen nämlich der stets unabgeschlossene Vorgang der Offenlegung möglichst aller Vorannahmen und Zwänge, eine umfassende Selbstreflektion, ein Bewusstsein für die eigene Konstruktion und deren Bedingungen, eine konsequente Trennung von Forschungs- und Quellenbegriffen, eine Anerkennung der Historizität aller Erfahrungen und eine kritische Überprüfung der gängigen Forschungsdiskurse.

„Die Verwendung des Ich-Pronomens erhöht die wissenschaftliche Wertigkeit und Authentizität“

L.I.S.A.: Was würde das ganz praktisch für historische Forschungsarbeiten bedeuten? Sollten historische Studien in Zukunft also in der ersten Person Singular geschrieben werden?

Pröve / Ernst: Praktisch sollte der erste Schritt demnach sein, sich selbst in einem durchaus aufwendigen Prozess zu befragen, welche Werte und Einstellungen sich aus meiner Sozialisation, meinen lebensweltlichen Einflüssen ergeben haben, was ich wirklich will und welche Themen und Fragestellungen mich nachhaltig interessieren. Auf diese Weise kann und sollte es mir gelingen, abseits von Interessen anderer meinen eigenen Weg zu finden und diesen dezidiert zu verfolgen. Dabei geht es nicht darum, in Kategorien wie falsch oder richtig zu denken, sondern zu akzeptieren, dass es viele Möglichkeiten eines spezifischen Geschichts- und Menschenverständnisses gibt, ich also stets die Wahl habe, ob ich etwa einen traditionellen Zugang, einen strukturgeschichtlichen Ansatz oder einen kulturalistischen Weg wähle. Von meiner Entscheidung, der Absteckung meines ganz persönlichen Untersuchungsclaims, hängt es dann ab, mir etwas Passendes aus der schier unendlichen Fülle an Themen und Fragestellungen auszusuchen und anschließend mich für eine Quellenauswahl und das methodologische Vorgehen zu entscheiden.

Dieser kognitive Basisvorgang sollte dann seinen Ausdruck finden in einer offenen und ehrlichen Niederschrift, etwa zu den Kriterien der Themenwahl, der präzisierten Fragestellung, der gewählten Methode, den Kriterien der Quellenwahl, den Thesen und Schlussfolgerungen. Damit ist bereits eine zentrale Forderung von Wissenschaft erfüllt, nämlich die nachhaltige Nachvollziehbarkeit meiner Arbeitsweise und meiner Interpretationen. Das Projekt stellt dann einen weiteren Beitrag dar zu einer niemals endenden Diskussion, zu einer Wissenschaft, die sich als endlose Folge von Interpretationen zu begreifen hat.

Vor diesem Hintergrund ist es wenig verständlich, wenn viele Kolleginnen und Kollegen ihren Studierenden die Verwendung des ICH-Pronomens regelrecht verbieten und diesbezüglich angelegte Seminar- oder Abschlussarbeiten zurückweisen. Warum sollte aber jemand so tun als ob er/sie sich von sich selbst abstrahieren könne? Im Gegenteil, die Verwendung des Pronomens erhöht überhaupt erst die wissenschaftliche Wertigkeit und Authentizität, da, wie schon dargelegt, die persönlichen Referenzen und Erkenntnisschöpfungsprozesse sichtbarer werden. Überdies gestaltet sich der Arbeitsprozess nun tatsächlich weitaus motivationsfördernder, da eine weitaus intensivere Identifikation erfolgt. Denn nun werden Studierende wie Schülerinnen und Schüler selbst als Urheber ihres Textes fassbar und damit deren Gedanken und Lösungsideen als lesenswert kenntlich.

„Liebgewonnene Überzeugungen und eingeübte Bewertungsmuster aktueller Ereignisse hinterfragen“

L.I.S.A.: Angesichts gegenwärtiger Diagnosen, in einem Zeitalter multipler Krisen und Fragmentierungen zu leben, scheint es demgegenüber ein gesteigertes Bedürfnis an Orientierungsnarrativen zu geben. Wenn der Blick auf die Geschichte so stark durch das eigene Bias belastet ist und in einer Endlosschleife von Interpretationen steckt, welche Erklärkraft hat sie dann noch?

Pröve / Ernst: Wie schon dargelegt ist dieser Bias ohnehin vorhanden und zwar unabhängig davon, ob wir uns dieses Umstands bewusst sind oder nicht. Uns geht es folglich darum, uns von der Illusion einer objektiven Vergangenheitsbetrachtung zu lösen, uns auf diese Weise zu emanzipieren und Verantwortung für unsere eigenen narrativen Schöpfungen zu übernehmen. Indem wir uns als Schöpfer offenlegen, ermöglichen wir es zudem, den Geschichten nicht nur blind zu folgen und diesen zu vertrauen, sondern diese Narrationen in ihrer Genese zu verstehen und sich so selbstbestimmt Orientierung zu verschaffen. Geschichte kann nämlich auch dann Orientierung bieten, wenn es sich „nur“ um Geschichten handelt. Geschichten erfüllen diese Funktion schon immer, ganz gleich, ob es sich dabei um fiktionale Erzählungen (Mythen, Sagen und Märchen) handelt oder solche, die auf eine vermeintliche Wahrheit rekurrieren.

Natürlich kann der Konstruktionscharakter von Geschichte auch verunsichern. Der Grund dafür liegt in dem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, Orientierung und Eindeutigkeit. Und hierin verbirgt sich nun in der Tat eine besondere gesellschaftliche und politische Relevanz, da jene, die weiterhin für nur eine absolute Wahrheit, eine für alle verbindliche Lösung antreten, auf eine Radikalität hinauslaufen, die Vielfalt bekämpft und Einfalt, nämlich die eigene Version von Weltdeutung, hofiert. Zu erkennen ist dies am vermehrten Zulauf radikaler, politisch und religiös extremer Parteien und Gruppierungen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Es ist dabei nicht ohne Ironie, dass diese Kräfte sich und sogar ganz gezielt auf den Sozialkonstruktivismus berufen, um konkurrierende Perspektiven zu desavouieren und auf diese Weise die eigenen Interpretationen absolut zu setzen und somit anderen zu oktroyieren. Freilich führen diese radikalen Gruppierungen mit ihrem speziellen Operationalisierungsmodus den Grundansatz dieses Konzepts ad absurdum, denn der Sozialkonstruktivismus stellt keine Aussage an sich, sondern vielmehr eine Aussage über Aussagen dar. Allerdings, und hier mag es auch für uns jeweils persönlich unbequem werden, bedeutet doch die konsequente Anwendung einer sozialkonstruktivistischen Grundhaltung, dass ebenso die eigenen liebgewonnenen Überzeugungen und eingeübten Bewertungsmuster aktueller Ereignisse zu hinterfragen sind. Dementsprechend gilt es gleichermaßen die aktuellen Debatten in ihrer diskursiven Dynamik zu dekonstruieren, da auch deren Ansätze nur eine von unendlichen Möglichkeiten darstellen, Welt zu interpretieren und in der Folge neue Ordnungskonzeptionen zu entwerfen. Die Erklärkraft von Aussagen unter sozialkonstruktivistischen Vorannahmen ist immer begrenzt. Es gibt keine letzte Erklärung, die wir auf diese Weise finden könnten. Aber das bedeutet nicht, dass unsere Erklärungen keinen Nutzen haben, nicht passen würden. Wir haben auch keine letzte Erklärung für das Leben, aber viele hilfreiche Erklärungen dafür, warum wir in dieser Welt auf diese oder jene Weise handeln sollten oder uns die Dinge so erscheinen, wie sie es tun. Wir können auch weiterhin als Gemeinschaft zusammenleben. Was dafür nötig ist, sind keine letzten Wahrheiten, sondern Prozesse der Einigung und am besten solche, die der Vielfalt des Lebens und seiner Ausdrucksweisen gerecht werden. Gerade weil es keine eindeutige Wahrheit gibt, sind alle radikalen Ideen, die eine Vielfalt vernichten wollen, strikt abzulehnen.

Für uns als Historikerinnen und Historiker bedeutet dies, dass wir uns letztlich immer in einer schöpferischen Endlosschleife befinden. Wir sind Menschen, die über Menschen schreiben, wir machen Aussagen über Aussagen und am Ende sprechen wir immer über uns selbst. Wir nutzen folglich vergangene Kulturen, also Regeln, Formen und Welt-Interpretationen früheren menschlichen Zusammenseins, als Spiegel, um auf diese Weise vor dem Hintergrund aktueller Befindlichkeiten und Probleme uns selbst besser verstehen zu können.

„Ziel ist nicht Orientierung in der Geschichte, sondern Orientierung mit Hilfe von Geschichte“

L.I.S.A.: In einem Gastbeitrag in der FAZ haben Lutz Raphael (VHD) und Niko Lamprecht (VGD) zuletzt den Rückgang geschichtlicher „Elementarkenntnisse“ beklagt. Die Chronologie im Geschichtsunterricht gebe Orientierung, ihre Entkernung und Übertragung in „diffusere Kompetenz- oder Problemfelder“ sei für schwächere Teile der Schüler- und Studentenschaft sehr anstrengend. Sollten wir uns also nicht auf die Vermittlung eines geschichtlichen Kanons bemühen, um diesen dann später problematisieren zu können?

Pröve / Ernst: Die Lösung kann nicht sein, zu den vermeintlich leichter abprüfbaren Zahlen, Daten und Fakten zurückzukehren. Ja, epochale Ordnungskonzepte, die Taten „Großer weißer Männer“ und statistisch-strukturelle Berechnungen schaffen eine scheinbar kontrollierbare Situation. Aber sollte es bei Bildung tatsächlich um Kontrolle und numerische Verwertbarkeit gehen oder nicht vielmehr um kompetente, selbstbewusste und in neuen Problemfeldern sich beweisende Lernende? Das aber lässt sich nun einmal nur haben, wenn wir eine kompetenzorientierte und sich an lebensweltlichen Problemfeldern abarbeitende Lehre anbieten. Ziel ist nicht Orientierung in der Geschichte, sondern Orientierung mit Hilfe von Geschichte als elementarer Kulturtechnik. Letztere besteht darin, sich selbst im Prozess der Auseinandersetzung mit dem medial vermittelten Anderen zu erkennen. Vermeintlich schwächer Lernenden dabei die Fähigkeit dazu abzusprechen, halten wir für problematisch. Es sollte vielmehr um die Frage gehen, wie sich ein solches Lernen für alle ermöglichen lässt. Auch hier plädieren wir abermals für einen starken Lebensweltbezug, Lehre auf Augenhöhe und die Akzeptanz vielfältiger Lernformen.

„Die Befähigung, mich selbstbestimmt im Dschungel der Geschichten zurechtzufinden“

L.I.S.A.: Zur Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern gehören heute auch Smartphones und das Internet, sowie Künstliche Intelligenz, von der es heißt, sie würde nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch den Schulunterricht wandeln. Werden KI-Technologien die Art und Weise verändern, wie wir historische Erkenntnisse gewinnen und vermitteln, und welche Chancen und Risiken sehen Sie dabei?

Pröve / Ernst: Die sogenannten sozialen Medien und schließlich auch die Verbreitung immer leistungsfähigerer KI-Technologien haben tiefgreifende Veränderungen mitgebracht und werden auch weiterhin radikale Wandlungen bewirken. Welche das konkret sind, das lässt sich heute kaum absehen. Was aus unserer Sicht aber schon jetzt deutlich wird, ist, dass diese neuen Werkzeuge sowohl Vorteile bieten als auch neue Herausforderungen bedeuten.

Zu den Vorteilen gehört aus unserer Sicht, dass insbesondere die sozialen Medien dazu beitragen, dass mehr Perspektiven in den Diskurs eingebracht werden und bisher ungehörte Stimmen zu Wort kommen können. Die etablierten Institutionen, die alten, routinierten Gatekeeper verlieren ihre filternde Machtposition zugunsten einer Demokratisierung und Pluralisierung des Wissens und Wissenserwerbs. Auch wir leisten, etwa mit unserem Instagramprojekt geschichtezumselberdenken einen kleinen Beitrag dazu. Herausfordernd ist hingegen, dass über die sozialen Netzwerke, die Suchmaschinen und die KI-Technologien zugleich immer mehr manipulierende, ideologisch nicht reflektierte Angebote zunehmend Verbreitung finden. Dieser Sachverhalt hängt auch eng mit der problematischen Algorithmentechnik (bezeichnender Weise ist ein Algorithmus laut Wikipedia „eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen“) zusammen, die tendenziell jeweils zu einer Einheits-Bubble führen, also zunehmend Alternativen und andere Betrachtungsweisen ausschließen.

Gerade hier hilft es aus unserer Sicht aber, Geschichte in unserem Sinne als fundamentale Kulturtechnik weiterzuentwickeln. Dabei geht es ja gerade auch darum, sich selbst in Bezug zu allen mir begegnenden Angeboten setzen zu können statt diese nur zu konsumieren sowie diese nicht nur hinsichtlich wissenschaftlicher Triftigkeit zu bewerten, mithin also auch der Frage nachzugehen, ob das Sprachspiel „Geschichtswissenschaft“ beherrscht wird, sondern nach den Gründen zu suchen, warum ich diesen oder jenen Angeboten folgen möchte, warum ich welchen Erzählungen aufsitze und warum mich welche Authentifizierungsstrategien ansprechen. Die notwendige Demokratisierung des Wissens wird so ergänzt durch die Befähigung, mich selbstbestimmt im Dschungel der Geschichten zurechtzufinden. Dabei kann KI-Technologie durchaus Hilfestellung leisten. Entsprechend programmiert und eingesetzt, kann sie als Lerncoach fungieren und so dabei helfen, nicht nur Lehrende zu entlasten, sondern auch Lernende von den Lehrenden zu emanzipieren. Denn darum geht es doch, das ist das Ziel aller Lehrenden oder sollte es zumindest sein: sich selbst sukzessive obsolet zu machen für die Lernenden.

Prof. Dr. Ralf Pröve und Dr. Sebastian Ernst haben die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.

Literaturhinweise
Ralf Pröve, Geschichtskunde versus Geschichtswissenschaft, Vielfalt statt Einfalt:
Ein Appell für sozialkonstruktivistisches Forschen und selbstreflektiertes Lehren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), S. 393-416.
Online: http://ralf-proeve.de/vielfalt-statt-einfalt-2020/
Sebastian Ernst, “And you’ve lost nothing but your illusions…and a little bit of skin.” Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität in der (Geschichts-)Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Emotionen in Wissensinstitutionen. Zur Bedeutung affektiver Dimensionen in Forschung, Lehre und Unterricht, Bielefeld 2021, S. 29-50.
Sebastian Ernst, Ralf Pröve, Vollkornbrot statt Schokolade? Historiographietheater und die Kunst, selber denken zu lernen, in: Jörg van Norden, Philipp Mclean (Hg.), Geschichte als Kritik (erscheint im Spätsommer 2024).