Vielfalt statt Einfalt (2020)

Folgender Beitrag ist publiziert worden in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68, Heft 5 (2020), S. 393-416

Ralf Pröve

Geschichtskunde versus Geschichtswissenschaft, Vielfalt statt Einfalt:
Ein Appell für sozialkonstruktivistisches Forschen und selbstreflektiertes Lehren
[1]

Noch immer stehen im Schulfach Geschichte, aber auch in den universitären Geschichtsstudiengängen die sogenannten harten Fakten im Vordergrund, vermeintlich unumstößliche Tatsachen, die sich scheinbar wertfrei etwa in Gestalt von Datierungen, Regierungsjahren bedeutender Herrscher, von Kriegen und Friedensschlüssen wirksam manifestieren lassen. Dies stellt eine Betrachtungsweise dar, die nicht nach dem Zustandekommen von Erkenntnis fragt und die stattdessen ihren hermeneutischen Anker auf einem ausschließlichen, engführenden Wahrheitsverständnis ruhen lässt. Mit anderen Worten: Praktiziert wird somit letztlich eine Form der Geschichtskunde.[2]

Angesichts dieser Engführung erscheint es nur konsequent, dass in den Schulen die Lehrplankontingente des Geschichtsunterrichts in den letzten Dekaden immer weiter reduziert bzw. mit anderen, zumeist sozialwissenschaftlichen Disziplinen (etwa als Gemeinschaftskunde) zusammengelegt wurden. Auch an den Universitäten offenbart dieser fatale Reduktionismus seine ganze Wirkkraft. Zwar haben die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge im Zuge des tiefgreifenden Bologna-Prozesses seit 1999/2010 durchaus viele thematische Farbtupfer entfaltet, doch spielte die mittlerweile alles durchdringende neoliberale Grundausrichtung in Politik und Gesellschaft, also auch an den Hochschulen, den geschichtskundlichen Vorstellungen massiv in die Hände. In dem Maße, wie Bildung im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung (im Geiste Wilhelm von Humboldts, also eine weitgespannte Bildung, die auf eine optimale Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten gerichtet ist) in eine zielorientierte zähl- und ökonomisch verwertbare Ausbildung transformiert wurde, kam der schon bestehenden Fokussierung auf vermeintliche Fakten und Tatsachen neue Bedeutung zu. In Klassenräumen und Hörsälen stehen entsprechend Bulimielernen und stupender Klausuraktionismus auf der Tagesordnung: Nicht das Denken wird erprobt oder über Alternativen nachgedacht; stattdessen dominiert die serielle Abprüfung vermeintlicher Fakten und Ereignisabfolgen, indem auf den kurzfristigen und eben wieder rasch verpuffenden, ohnehin fragwürdigen Effekt des Auswendiglernens geschielt wird. In einem unheilvollen und stillschweigenden Bündnis stehen sich bei dieser Verflachung universitärer, aber auch schulischer Bildung geschichtswissenschaftlicher Inhalte Lehrende und Dozierende auf der einen sowie Schülerschaft und Studierende auf der anderen Seite gegenüber: Die eine Partei ist nolens volens gehalten, das leider oftmals ohnehin niedrige Niveau des vermittelnden und diskursiven Engagements in der Lehre noch weiter deutlich abzusenken, da die Konzentration eben den kaum mehr zu hinterfragenden und kanonisch fixierten Wissensbeständen gilt, die andere Partei kann sich vermeintliche Sicherheiten über das (Auswendig-)Lernen von Fakten schaffen und ist nicht gezwungen, über das Zustandekommen von Erkenntnis in einem emanzipatorischen und selbstwirksamen Akt selbst zu reflektieren. Die auf diese Weise zugespitzte Perspektive eines fatalen, alternativlos ausgelegten Richtig-Falsch-Verständnisses trägt erheblich zu einer unguten asymmetrischen Lehrsituation bei. Ganz im Geiste des losgetretenen verwaltungsjuristischen Neusprechs im Spiegel der Workloadberechnungen, der Leistungspunktrichtlinien und der Modulzuordnungen gilt das Interesse der arithmetischen Bewertungslogik, nicht mehr dem Zuwachs an Kompetenzen.

Wenn auch nicht das dahinter liegende politisch-gesellschaftliche Problem, aber immerhin das wissenschaftlich-didaktische Manko bringt der Historiker Clemens Wischermann im Jahr 2015 folgendermaßen auf den Punkt: „Sich selbst beim Denken zuzusehen gehört leider noch nicht zu den vermittelten Kernkompetenzen eines Geschichtsstudiums.“[3]

Im Folgenden möchte ich dieses Dilemma erläutern, auf die tieferen Ursachen eingehen sowie Alternativen aus dieser hermeneutischen Engführung für das Fach diskutieren.

I. Geschichte als verfahrensarme Wissenschaft?

Die allzu ausgeprägte Konzentration vieler Historiker und Historikerinnen auf Fakten und Tatsachen ganz im Geiste eines bestimmten Wahrheitsverständnisses lässt sich auf den ersten Blick durchaus in das Licht des gängigen Wissenschaftsverständnisses stellen. So bezeichne Wissenschaft einen Prozess intersubjektiv nachvollziehbaren Forschens und Erkennens, der ein begründetes, geordnetes und gesichertes Wissen hervorbringe.[4] Wissenschaft kennzeichne das gesicherte und im Begründungszusammenhang von Sätzen gestellte Wissen, das kommunizierbar und überprüfbar sei sowie bestimmten wissenschaftlichen Kriterien folge. Wissenschaft bezeichne somit ein System von Aussagen, das strengen Prüfungen der Geltung unterzogen werde und mit dem Anspruch objektiver, überpersönlicher Gültigkeit verbunden sei. So weit die Definition – der vielleicht allgemeine common sense. Die Grundpfeiler dieses Verständnisses von Wissenschaft bilden demnach also unbedingte Wahrheit, lupenreine Objektivität, zweckfreier Erkenntnisgewinn, mithin jene Mixtur, mit der wir seit etwa 200 Jahren so vertraut geworden sind und die eng angelehnt und verknüpft ist mit den altbewährten, eingeübten und antrainierten Konzepten von Aufklärung, Vernunft, Rationalität, Fortschritt und Moderne. Vor diesem Hintergrund scheint die weitverbreitete Beschränkung auf Fakten und die Jagd nach exakt definierten Jahreszahlen zunächst durchaus nachvollziehbar zu sein.

Klassische Arbeitsgrundlage von Historikern und Historikerinnen sind Quellen. Mit diesem Begriff sind gängige Vorstellungen verbunden: Quellen befinden sich wohlbehütet im Archiv oder im Museum, Quellen seien als Schriftstücke zu verstehen, Quellen seien materiell fassbar. Medien und Schulgeschichtsbücher, aber auch immer wieder Dozierende an den Universitäten tragen erheblich zu dieser Interpretation bei, die nicht nur beim interessierten Publikum, sondern auch bei Studierenden weitverbreitet ist. Eine direkte Folge dieser Annahmen ist die Charakterisierung von Quelle als Ausweis für Wahrheit, für Objektivität, für Authentizität. Falls Fehlinterpretationen doch auftauchten, dann hätten die Urheber der Quelle eben gelogen und/oder die Forscher hätten unzureichend Quellenkritik geübt.[5] Entsprechend ostentativ beanspruchen Historiker und Historikerinnen meist eine besondere Aussagekraft und Allgemeingültigkeit ihrer Schlussfolgerungen – da sie sich ja eben auf eine Quelle (im Sinne eines vermeintlichen wissenschaftlichen Wahrheits-Beweises) beziehen. Sie verweisen auf ihre entsprechende empirische Grundlage und das gerne und viel zitierte Vetorecht eben jenes „Beweismaterials“.[6]

Diese Vorstellungen werden von den üblichen, an den Universitäten nach wie vor vermittelten älteren, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Quellenkategorien Tradition/Überrest oder Primärquelle/Sekundärquelle noch weiter verstärkt. Selbst eine formaltypologische Einteilung in Aggregatzustände (Sachquelle, Schriftquelle, abstrakte Quelle) bringt keine grundsätzlich neue Perspektive. Denn die Quelle wird auch hier jeweils isoliert betrachtet, als Entität, die scheinbar aus sich selbst heraus vermeintlich objektive Informationen, ganz im Sinne der Metapher Quelle, sprudeln lässt. Die eingeübte, fast ritualhaft durchgespielte Quellenkritik kann sich von dieser Metaphorik nicht wirklich lösen, sodass nahezu immer eine Betrachtung des wichtigsten hermeneutischen Vorgangs, nämlich die interpretatorischen Prozesse zwischen mir und der Quelle unberücksichtigt bleibt. Dieses Manko ist umso bedenklicher, als Geschichte im Gegensatz zu den als exakt geltenden Naturwissenschaften, wie Armin Heinen völlig richtig betont, „eine verfahrensarme Wissenschaft“ ist, also eine Wissenschaft, „die ihren Gegenstand durch Fragen erst bestimmt, als eine suchende Tätigkeit, deren ‚Wirklichkeit‘ nicht ‚vorgegeben ist‘, sondern diskursiv ermittelt wird (‚Soziale Wirklichkeit‘)“, sodass ihre „Realitätsannäherung“ zahlreichen sozialen Einflüssen unterliegt.[7] Fast könnte der Verdacht aufkommen, dass Historiker und Historikerinnen, diese gewichtigen Einwände ignorierend, stillschweigend das vermeintliche Vetorecht ihrer Quellen nutzen, um sich auf diese Weise mit sozusagen naturwissenschaftlichen Lorbeeren schmücken zu können.

Flankiert wird die geschichtskundliche Engführung der Wissenschaft von vergangenen Zeiten durch die vielfältige, alltagsweltliche Konzentration auf runde Jubiläen und bestimmte Ereignisse. Dabei spielt es nur eine geringe Rolle, ob die jeweiligen Beweggründe persönlich (eigene Rückblicke in Form von Ereignissen wie Abiturfeier, Hochzeit usw.), ökonomisch (Firmenjubiläen, Verweise auf Langjährigkeit eines Produktes) oder politisch (staatliche Feier- und Gedenktage, dezidierte Benennung von Plätzen und Straßen) motiviert sind. Zugleich dominiert immer mehr die medienwirksam inszenierte, popkulturell aufbereitete Darstellung vergangener Ereignisse in Schrift, Abbildung, Ton und bewegten Bildern, etwa in Gestalt der Reihe ZDF-History des umtriebigen und sehr erfolgreichen Wissenschaftsjournalisten Guido Knopp oder der Rubrik „einestages“ auf Spiegel Online, die mit immer raffinierteren Methoden und Techniken arbeiten. Ganz in der nachvollziehbaren Logik hoher Klick- und Verkaufszahlen sowie Einschaltquoten wird Geschichtskultur in gut verdaubaren Häppchen erfolgreich vermarktet.[8]

II. Sozialkonstruktivismus und Postmoderne

Offenbar besteht ein enger Nexus zwischen dem Hang zur Zahl, zum Ereignis, zum vermeintlich unumstößlichen Faktum erstens, der ausgefeilten, jedoch unzureichenden Quellendefinition und Quellenkritik zweitens sowie der Anlehnung an ein gängiges Wissenschaftskonzept, das mit einem ausschließlichen und also eindimensionalen Wahrheitsbegriff operiert, drittens.

Erste kritische Hinweise schimmerten bisher bereits zwischen den Zeilen durch, sodass uns einige Zweifel an dieser Vorstellung beschleichen: Forscherin und Forscher ringen, sozusagen losgelöst von ihrer Lebenswelt, um die eine, alles transzendierende Wahrheit. Dies wirkt für viele heute geradezu anmaßend oder wahlweise naiv. Und in der Tat tobt hinter der Bühne Wissenschaft um dieses konzeptionelle Verständnis ein erbitterter, ja geradezu existenzialistischer Kampf. So hat sich seit etwa 30 Jahren eine aus ganz unterschiedlichen disziplinären Motiven und verschiedenen, auch gesellschaftlichen Entwicklungen gespeiste breite Bewegung herausgebildet, die dieses naiv anmutende Begreifen von Wissenschaft zunehmend infrage stellt. Einer der wichtigsten Kristallisationspunkte ist hierbei der Sozialkonstruktivismus, also in seinem Grundkonzept die Idee, dass Phänomene, die wir gemeinhin als selbstständig und an sich existierend betrachten, letztlich und im Grunde vom Denken, von der Sprache und der sozialen Praxis des Menschen erschaffen und zusammengesetzt oder eben konstruiert werden. Es gibt also demnach keine objektive und von allem losgelöste, sondern stets nur eine vermittelte, konstruierte, also subjektive Wirklichkeit – mithin also eine Pluralität von Wahrheiten und Wirklichkeiten.

Die Basisidee dieses speziellen, sozial und subjektiv initiierten Erkenntnisgenerierungsprozesses ist in seinen Kernaussagen nicht neu; insbesondere Philosophen haben immer wieder auf den Widerspruch von Außenwelt und Innenwahrnehmung hingewiesen, so etwa Immanuel Kant (1724–1804), Georg Friedrich Hegel (1770–1831) oder Karl Marx (1818–1883) im 19. Jahrhundert, doch blieben diese Überlegungen lange Zeit wenig beachtet. Als dann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Ernst von Glasersfeld (1917–2010) und Heinz von Foerster (1911–2002) systematisch den Konstruktivismus diskutiert[9] und diesen einerseits auf eine breitere Grundlage gestellt, andererseits den Befund aber zugleich auch weiter zugespitzt haben, konnten sich die beiden bereits auf massive Vorleistungen aus anderen Disziplinen stützen. Besondere Bedeutung kam hier den Linguisten, den Sprachwissenschaftlern zu – was nicht verwundern dürfte, bildet doch Sprache das zentrale Medium der Wahrnehmung, Vermittlung und Wiedergabe von Welt. Der Zugriff erfolgte dabei, in abweichender chronologischer Entwicklung, aus verschiedenen Richtungen: So wurde etwa von Ferdinand de Saussure (1857–1913)[10] und viel später von Jean Baudrillard (1929–2007)[11] auf die Differenz von Zeichenform und Zeicheninhalt, von Bezeichnetem und Bezeichnendem hingewiesen und Sprache somit als semiotisches Zeichensystem, als Konstituens für Wahrnehmung begriffen. Geradezu naturhaft-evolutionär argumentieren Noam Chomsky sowie das Team um Edward Sapir (1884–1939) undBenjamin Lee Whorf (1897–1941).[12] Während Ersterer eine Universalgrammatik ausmacht, die Teil eines genetischen Programms des Menschen darstelle und auf diese Weise Welt sprachlich strukturiere und reflektiere, verweisen Letztere darauf, dass die Art und Weise, wie ein Mensch denke, stark von Grammatik und Wortschatz (die semantische Struktur) seiner Muttersprache beeinflusst oder bestimmt werde. Daraus folge, dass es bestimmte Gedanken einer einzelnen Person in einer Sprache gebe, die von jemandem, der eine andere Sprache spreche, nicht verstanden werden könne. Mit anderen Worten: Sprache forme das Denken der Menschen.

Die konkrete Sprachbenutzung greift Ludwig Wittgenstein (1889–1951) auf, dessen Bonmot „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ bekannt sein dürfte.[13] Nach ihm könne philosophische Probleme nur der verstehen oder auflösen, der begreife, durch welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erst erzeugt würden. Sprechakte wie „befehlen“ oder „erzählen“ seien demzufolge als Sprachspiele zu betrachten. Wittgenstein unterstreicht damit, dass das Sprechen der Sprache als Teil einer Tätigkeit oder einer Lebensform zu begreifen sei. Das Spiel lege fest, wie man sich in ihm korrekt zu verhalten habe. Aufbauend auf Wittgenstein hat etwa John R. Searle zusammen mit anderen die Sprechakttheorie weiterentwickelt.[14]

Mehr auf Sprachbilder und Semantiken statt auf Grammatik und Syntax oder die Prozesse des Sprachhandelns verweisen der Linguist und Chomsky-Schüler George P. Lakoff sowie der Philosoph Mark Johnson. Beide vertreten die These, dass Menschen in Metaphern denken; dies geschehe zumeist unbewusst, da die Metaphern als solche nicht mehr wahrgenommen würden. Hinter Metaphern verbergen sich Sinnkonzepte, die unser Denken und das, was wir wahrnehmen, wie wir uns in der Welt bewegen und wie wir uns auf andere Menschen beziehen, strukturieren.[15]

In Weiterführung dieser Ideen hat die zurzeit recht medienpräsente Linguistin Elisabeth Wehling Ideologieforschung, Verhaltensökonomie und Hirnforschung kombiniert und das Konzept vom Framing diskutiert. Sprache sei kein abstraktes Gerüst. Hinter Wörtern stecke etwas. Um sie zu begreifen, aktiviere unser Gehirn ganze Vorratslager abgespeicherten Wissens: Gefühle, Gerüche, visuelle Erinnerungen. Wörter transportieren also viel mehr Informationen, als wir glauben, und sie treiben uns politisch nach links oder rechts, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.[16]

Flankiert bzw. auf die sprachphilosophischen Überlegungen aufbauend werden diese Erkenntnisse von Kommunikationsforscherinnen und Medientheorikern verdichtet.

Deren bekanntestes Mitglied war Marshall McLuhan (1911–1980), der die Grundformel „Das Medium ist die Botschaft“ einbrachte. Damit war gemeint: Das Medium, nicht die von ihm transportierten Inhalte oder die es nutzenden Personen sind wesentlich verursachendes Prinzip für die Generierung menschlicher Lebenswelt.[17] Wenn Medien keine willenlosen Kanäle mehr sind, die Botschaften übermitteln, sondern wenn sie die Botschaften wie die Situationen, in denen Kommunikation stattfindet, wesentlich bedingen, dann repräsentieren Medien nicht mehr einfach nur eine außerhalb von ihnen liegende Wirklichkeit. Vielmehr kreieren Medien und Kommunikation selbst Wirklichkeit. Von hier war es nur ein kleiner Schritt zur kritischen Diskursanalyse im Sinne etwa von Michel Foucault (1926–1984), der Diskurse als ein Mittel zur Konstruktion und Übertragung von Sinn versteht.[18]

Auch geschriebenen Texten wurde ein Konstruktionscharakter zugeschrieben. So verwies der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White (1928–2018) darauf, die unvermeidliche narrative Struktur insgesamt als sinnbildend zu begreifen.[19] Ganz konkret gesprochen: Historiker und Historikerinnen erzählen Geschichten nach Regeln und Regieanweisungen, die sie oft selbst nicht durchschauen (können).

Parallel zu diesen Zugängen entwickelten sich wissenssoziologische Perspektiven, die ebenfalls in die gleiche Konstruktionskerbe hauten. So beleuchteten Thomas S. Kuhn (1922–1996), Peter L. Berger (1929–2017) und Thomas Luckmann (1927–2016) die Auffassung, dass die Organisation von Wissenschaft eine spezifische Weltwahrnehmung nach sich ziehe. Der jeweilige Verstehens- und Erkennensprozess sei somit eben nicht autonom, sondern immer und stets im Kontext mit anderen Menschen, mit Praktiken, Routinen und Erkenntnisschablonen zu denken. Dies werde etwa auch mit einer Gedankenstruktur, wie etwa dem Paradigmenbegriff, erzielt, der auf seine ganz eigene Weise ein bestimmtes Verständnis von Wirklichkeit herstelle.[20]

Schließlich sei noch auf die immer größer werdende Schar von Biologen, Evolutionsforscherinnen, Hirnforschern und Kognitionspsychologinnen verwiesen, die mit vielfältigen neuen Messmethoden und bildgebenden Verfahren die physiologischen Prozesse offenlegen, die es dem Menschen unmöglich machen, Welt sozusagen objektiv, mittels Gedankenkraft und autonom wahrzunehmen.[21]

Ebenfalls in diese Richtung ging bereits vor Jahrzehnten der Psychotherapeut Paul Watzlawick (1921–2007), der ausführt, dass es keine wirkliche, das heißt objektive, menschenunabhängige Wirklichkeit gebe. Er unterscheidet dabei die Wirklichkeit erster von der Wirklichkeit zweiter Ordnung. Die Wirklichkeit erster Ordnung sei demnach die physische Messbarkeit von Wirklichkeit, eigentlich: das Wahrnehmungskonzept der Mehrheit, das in einem Spannungsfeld zu der Wirklichkeit zweiter Ordnung stehe, also unserer persönlichen Weltschau, unserer Gedanken und Gefühle, also der Konstruktion unserer jeweils eigenen Welt.[22]

Ebenso Jahrzehnte vor der Revolution hirnmedizinischer Diagnostik hatten die beiden chilenischen Biologen und Neurowissenschaftler Humberto Romesín Maturana und Francisco Javier Varela (1946–2001) „Kognition“ als biologisches Phänomen verstanden.[23]

Ganz am Ende dieser breit aufgestellten Phalanx von Forschungsdisziplinen und erkenntnistheoretischen Ansätzen, die alle auf eine soziokulturell, aber eben auch biologisch-evolutionäre Bedingtheit von Weltwahrnehmung rekurrieren, sollten wir noch das zeitlich parallel entwickelte Konzept der Postmoderne erwähnen. Jean-François Lyotard (1924–1998) rief in seinem wegweisenden Beitrag aus dem Jahr 1979 das Ende der Gewissheit und Fortschrittsgläubigkeit der Moderne aus.[24] Bisher habe es jeweils monokausale Welterklärungen gegeben, doch diese, so Lyotard, großen Erzählungen seien ohne Überzeugungskraft. Er setzt an die Stelle eines allgemeingültigen und absoluten Erklärungsprinzips eine heterogene Vielzahl von Erklärungsmodellen, die jedes für sich stehen könnten – sozusagen eine spezielle philosophische Anwendungsvariante des Sozialkonstruktivismus.

III. Die kulturalistische Wende: die erste Ebene

Wir halten kurz fest: Es gibt keine einfache, singuläre, für alle verbindliche Form der Wahrheit; eher gibt es eine Pluralität von Wahrheiten, alternative Sichtweisen und Wirklichkeiten. Jeder scheinbar objektiven sprachlichen Beschreibung eines Zustands wohnt eine unvermeidliche Nebenbedeutung inne – sowohl beim Sender als auch beim Empfänger. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ursachen sozialkonstruktivistischer Weltwahrnehmung eher im biologisch-evolutionären Kontext oder im kulturellen bzw. kulturanthropologischen Bereich zu suchen sind (zu vermuten ist hierbei ohnehin eine gewisse Kombination unterschiedlicher Faktoren). Bevor ich auf die persönlichen Konsequenzen am eigenen Schreibtisch eingehen werde, sollen zunächst die fachspezifischen erkenntnistheoretischen Antworten auf die hier skizzierten Herausforderungen erläutert werden.[25]

In der Tat sind die Folgen des sozialkonstruktivistischen und postmodernen Wissenschaftsverständnisses für die Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 1990er-Jahren immens.

Sprachlich ist dabei zuweilen vom Cultural Turn, von der kulturalistischen Wende die Rede, dem zugleich einzelne Turns wie etwa der Linguistic Turn, der Spatial Turn, der Emotional Turn oder der Performative Turn beigestellt werden.[26] Dabei seien, wie Stefan Haas sehr prägnant formuliert hat, Turn oder Wende durchaus wörtlich zu verstehen, und zwar in einem erkenntnistheoretischen Sinn:[27] Gemeint sei eine Umkehrung der Grundannahmen von Wissenschaft mit ihrer bisherigen Argumentationspraxis. Paradigmatisches Vorbild hierfür sei die Kopernikanische Wende. In ihr werde die Erde nicht mehr als von der Sonne umrundet, sondern selbst als sich um den erdnahen Stern drehend interpretiert. Mehrere Merkmale seien typisch: erstens der disziplin- und fachübergreifende Zugriff und damit die Auflösung der althergebrachten Fachgrenzen, zweitens die Modifikation der Arbeits- und Argumentationspraxis, drittens ein neuer Korpus von Referenztexten, Problemfeldern, Denk- und Argumentationsweisen, viertens eine explizite Theoriereflektion, fünftens die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache aller kulturell arbeitenden Disziplinen und Fächer sowie ein analytischer Kulturbegriff als Hauptinstanz sechstens. Letzterem kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Um die vielfältigen Prozesse von Weltwahrnehmung bei Akteurinnen fassen zu können und auf diese Weise zu validen Ergebnissen zu kommen, gilt es, mangels eines direkten Zugriffs indirekt vorzugehen. Als Kultur könne demnach jedwede Äußerung von Akteuren, ihr spezifisches In-der-Welt-sein, also Sprache, Kleidung, Gesten, Gebärden, Körperhaltungen, Handlungen und vieles mehr angesehen werden.[28]

Mit diesem Zugang ist der Weg gewiesen, den bereits mehrfach benannten Terminus Akteur ebenfalls mit einer analytischen Bedeutung zu versehen.[29] Akteurinnen sind demnach als menschliche Individuen stets im Rahmen von Akteursgruppen zu denken. Gemäß konstruktivistischen Grundannahmen ist ein Überleben einer einzelnen Person nur vor dem Hintergrund sozialer Sinnstiftung und intersubjektiver Konsenskonstruktionen denkbar. Der Mensch als soziales Wesen bedient sich bewusster und unbewusster Spiegelungsmechanismen, um seine sogenannten Ich-Konstruktionen aufrechtzuerhalten, Reize, Wahrnehmungen und Erfahrungen sinngebend einzuordnen, die Komplexität des Lebens zu reduzieren und ein Überleben zu gewährleisten. Dies gelingt ihm durch vielseitig-bewegte und andauernde, materiell oder immateriell fassbare Kommunikationsprozesse, die zentral an das sprachliche Zeichensystem und somit an intersubjektive Sinn- und Bedeutungszuschreibungen, als Kultur(en), gebunden sind. Mittels unzähliger semantischer Konzepte, wie z. B. Nation, Staat, Volk, Gesellschaft, Familie und Verein, sowie verschiedener kognitiver Modi, u. a. durch Erzählen, konstruieren sich Akteure Zugehörigkeiten, Gruppen, Abhängigkeiten, eigene kognitive Schubladen und Wissenshorizonte, vor deren Hintergrund sie ihre jeweiligen Identitäten konstituieren. Die Identitätskonzeptionen unterliegen dabei einem steten Wandel und sind abhängig von den spezifisch-situativen und kontextbezogenen Anforderungen, in denen sich Akteurinnen entsprechend ihren mentalen Prädispositionen und ihren Erfahrungshorizonten reflektieren und scheinbar nachgeordnet, vielmehr aber immanent Handlungskonzepte abrufen.

Voraussetzung für die Umsetzung dieser neuen Denkansätze ist die bewusste Anerkennung auch (vermeintlich) einfacher Menschen als historisch-wissenschaftlich bedeutsame Akteure und somit die Abkehr von einem geschichtskundlichen Verständnis von Welt und Wahrheit, das sich ganz im Sinne eines eindimensionalen Wahrheitsverständnisses gerne auf vermeintlich bedeutende (zumeist männliche) Persönlichkeiten wie Monarchen, Generäle oder Politiker stützt. In diesen Fällen gelingt es dann zumeist eben nicht, sich sowohl von den eigenen Konstruktionen und Vorannahmen als auch von jenen, dem Untersuchungsgegenstand zugeschriebenen Konstruktionen und bewusst inszenierten historischen, aber auch historiografischen Mythen auch nur annähernd zu lösen. Erst wenn der Potentat eben nicht in seiner Rolle und Funktion, sondern als Akteur betrachtet wird, können sich derartige Erkenntnisfilter auflösen.

Wie Francisca Loetz es so treffend formuliert hat, ist nicht das Was entscheidend, sondern das Wie: „HistorikerInnen können nicht eigentlich fragen, was Quellen von vergangener Wirklichkeit berichten, sondern allein ‚dekonstruieren‘, wie sie von ihr berichten und somit erfassen, wie vergangene Entwürfe von Welt aussehen.“ [30] Folgerichtig werden Themenfelder bearbeitet, bei denen sich Indikatoren für Prozesse von Wahrnehmung und Sinngebung gewinnen lassen. Dies gelte zum Beispiel für Ab-Bilder und Vorstellungen von Umwelt, für sinngenerierende Faktoren und Felder (Medien, Symbole, Lexika, Begriffe), für Mechanismen von Wissensentstehung und Wissensordnung (Bibliothek, Internet, Museum, Wikipedia) oder für Darstellung und Vermittlung von Welt- und Sinndeutungen (Diskurse, Symbole, Begriffe, Semantiken, Produkte, Gesetze). Wie die Bezeichnungen der sich weiter ausdifferenzierenden Turns schon andeuten, entwickeln sich aus dem kulturalistischen Grundkonzept heraus weitere methodisch-thematische Erkenntnisparadigmen, die jeweils einen Baustein menschlichen Daseins kondensieren, um den herum sich anschließend unterschiedliche Beobachtungen filtern lassen. Der Body Turn etwa umfasst Körper, Mode und Sexualität, aber etwa auch Zeitempfinden und Zeitverständnis, der Animal Turn die vielfältigen Mensch-Tier-Beziehungen, der Spatial Turn das Denken und Sprechen in Räumen bzw. Containern sowie Globalisierungskonzepte und Raumvorstellungen, der Performance Turn und der Practice Turn Rituale und Praktiken der Alltags-Bewältigung, aber auch das Beziehungsgeflecht zwischen Ding und Akteurin, der Postcolonial Turn Wahrnehmungsmuster des Anderen, aber auch Identitätsbildungsprozesse, Subjektivierungsvorgänge und Transformationen von Ordnungen, der Emotional Turn Deutung von Emotionen als zentrale Muster und Wege der Wirklichkeitswahrnehmung, der Iconic Turn die Wirkungsmächtigkeit bildlicher Darstellungen; schließlich umfasst der Gender Turn soziale und kulturelle Konstruktionen von Geschlecht.

Als wichtigstes methodisches Vorgehen gilt in diesem Kontext der praxeologische Ansatz, die Praxeologie als Theorie der Praxis. Bereits in den 1970er-Jahren begann Pierre Bourdieu (1930–2002) damit, eine Theorie des Handelns zu entwickeln[31] und somit Menschen als Akteure zu begreifen, die sich in einem sozialen Raum, einem Feld, bewegen, dessen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und befolgen und zugleich handelnd die Parameter dieses Raumes und dessen Gesetze stetig verändern.[32] Akteurinnen seien also einerseits den Gegebenheiten, den Strukturen (im Sinne Watzlawicks also der Wirklichkeit 1. Ordnung) ausgeliefert, andererseits würden sie im Kontext ihrer eigenen Wahrnehmung (also der Wirklichkeit 2. Ordnung) diese immer wieder durch ihr Handeln verändern.

In gewisser Weise erfolgt somit eine Vermengung von Struktur und Kultur, wobei unter Struktur sowohl natürliche Strukturen (Klima, Geografie), aber auch von Menschen gemachte Strukturen, Regeln, Tabus, Rituale, Gewohnheiten, Moden, Gesetze zu verstehen sind. Insofern geht es um die Wahrnehmung von Akteurinnen, deren jeweilige individuelle Aneignung von Wirklichkeit. Eine Aneignung, die über Kommunikationsprozesse und das Handeln, das Praktizieren, erfolgt. Mit anderen Worten, es geht bei dem praxeologischen Ansatz um eine Beziehungsrelation, um die Akteur-Umwelt-Interaktion.

Die Differenz zwischen diesen beiden Polen zu beschreiben, deren jeweilige relative Abweichung, hat sich für die Kulturwissenschaften zu einem ubiquitären Messverfahren entwickelt.

Die von Ideen der Postmoderne und des Sozialkonstruktivismus beseelte kulturwissenschaftliche Wende hat nicht nur die Universitäten verändert, sondern auch enorme politische und gesellschaftliche Folgen nach sich gezogen (Genderdebatte, Infragestellen von Konstrukten wie Nation, Rasse, Volk, Religion etc.). Zudem wurde das neue Lebensgefühl, der Abschied vermeintlicher Sicherheiten und Gewissheiten und der damit verbundene Zugewinn an persönlicher Autarkie öffentlichkeitswirksam umgesetzt. Dazu zählen populäre Ratgeber, die strategische Schritte auf dem Weg in die Selbstoptimierung („Resilienz“), Individualität, Selbstverwirklichung oder Selbstfindung versprechen, ebenso wie erfolgreiche Filmstoffe (wie etwa die Matrix-Trilogie[33]), die die Konstruiertheit von Welt eindringlich dramaturgisch umsetzen.

Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass an dem sozialkonstruktivistischen und postmodernen Grundkonzept seit einiger Zeit zum Teil massive, vor allem in gesellschaftspolitischen Motiven wurzelnde Kritik geübt wird. Dabei kommen zwei Strategien zur Anwendung: Entweder werden kulturelle Vielfalt und achtsame Sprachverwendung in ironisch-zynischer Weise als „Hypermoral“, „Nihilismus“ oder „Gender-Mainstreaming“ angeprangert.[34] Oder es wird, gerade in der Logik der Neuen Rechten, zwar dezidiert und scheinbar taktisch geschickt auf die Konstruiertheit von Welt verwiesen, um auf diese Weise andere Meinungen zu diskreditieren. Allerdings geschieht dies lediglich, um einen Hebel zu generieren, der dazu dient, die eigene, vermeintlich nun endgültig einzige wahre Weltsicht für sich zu reklamieren. Hierbei wird jedoch gerne außer Acht gelassen, dass der Sozialkonstruktivismus nicht mehr und nicht weniger als eine Aussage über Aussagen darstellt.

Offenbar ist es für all jene, die von dem Wunsch nach einer eindeutigen Ansage und Durchsetzung von Weltwahrheit, nach eindeutigen Unterordnungen und Vereinfachungen komplexer Sachverhalte durchdrungen sind, eine besondere Herausforderung, sich mit einem letztlich zutiefst emanzipatorischen, basisdemokratischen und das einzelne Individuum stärkenden und achtenden Verständnis von Welt und Wissenschaft auseinanderzusetzen und das Abweichende, Andere nicht als Bedrohung zu empfinden.

IV. Geschichtswissenschaftlich arbeiten: die zweite Ebene

Die kulturalistische Wende in den Geistes- und Kulturwissenschaften hat sich als bedeutsame und vielversprechende Antwort auf die grundlegenden erkenntnistheoretischen und somit auch geschichtsphilosophischen Herausforderungen der Postmoderne und des Sozialkonstruktivismus erwiesen.[35] Offen bleibt aber noch die Frage nach der persönlichen Umsetzung dieser vielen Ansätze und Möglichkeiten, sozusagen den konkreten Arbeitsschritten am eigenen Schreibtisch, aber eben auch die didaktische Umsetzung in Klassenzimmern und Hörsälen.

Angesichts der Dreierkonstellation Historikerin als beobachtende Instanz erstens, Akteur als zu beobachtende Instanz zweitens sowie der Quelle als Vermittlungsinstanz zwischen diesen beiden Welten drittens ergeben sich folglich drei Schwerpunktbereiche, an denen es methodologisch und erkenntnistheoretisch anzusetzen gilt.

Zunächst zum ersten Schwerpunkt. Historiker und Historikerinnen stehen vor der großen Herausforderung, einerseits eine analytische Distanz zum Forschungsgegenstand aufbauen zu müssen, andererseits aber zugleich selbst Akteure, also Bestandteil der sie umgebenden Welt zu sein. Diese widersprüchliche Dopplung Historiker/Akteur bedeutet, sowohl am Ende der erkenntnistheoretischen Nahrungskette zu sitzen, als auch lebensweltlich und wissenschaftssoziologisch sozusagen selbst unter Beobachtung zu stehen. Der erste Schritt sollte demnach sein, sich selbst beim Denken zusehen zu lernen, also in einem durchaus aufwendigen Prozess sich selbst zu befragen, welche Werte und Einstellungen sich aus meiner Sozialisation, meinen lebensweltlichen Einflüssen ergeben haben, was ich wirklich will und welche Themen und Fragestellungen mich nachhaltig interessieren. Auf diese Weise kann und sollte es mir gelingen, abseits von Interessen anderer meinen eigenen Weg zu finden und diesen dezidiert zu verfolgen. Dabei geht es nicht darum, in Kategorien wie falsch oder richtig zu denken, sondern zu akzeptieren, dass es viele Möglichkeiten eines spezifischen Geschichts- und Menschenverständnisses gibt, ich also stets die Wahl habe, ob ich etwa einen traditionellen Zugang, einen strukturgeschichtlichen Ansatz oder einen kulturalistischen Weg wähle. Von meiner Entscheidung, der Absteckung meines ganz persönlichen Untersuchungsclaims, hängt es dann ab, mir etwas Passendes aus der schier unendlichen Fülle an Themen und Fragestellungen auszusuchen und anschließend mich für eine Quellenauswahl und das methodologische Vorgehen zu entscheiden. Ich weiß, dass viele Kollegen, Kolleginnen und Studierende sich gerne auf einen engen, durchaus sehr persönlichen biografischen Bezugspunkt bei der Themenwahl beziehen, andere wiederum meiden einen solchen Bezug ganz dezidiert.

Es geht darum zu erfahren, dass es viele Optionen, Alternativen und Möglichkeiten gibt und dass wir uns eigenverantwortlich und selbstwirksam für einen Zugang, eine Kombination entscheiden können. Nur dann kann ich mein Forschungsprojekt, meine Abschlussarbeit wirklich auch zu meinem Projekt machen. Gerade weil ich mich nicht selbst verlassen, mich nicht vollkommen transzendieren, mich nicht von mir selbst abstrahieren kann, also ich immer und stets in bewusste oder vielmehr unbewusste (Denk- und Bewertungs-)Kontextualisierungen eingebunden bleibe, und weil es eben auch keine allgemeinverbindliche, sondern nur konstruierte Wahrheiten gibt, kann ich ganz bewusst für mich wählen und diese Wahl nachvollziehbar darlegen. Statt vermeintlicher Sicherheiten oder vorgeblicher Sachzwänge habe ich somit die Qual der eigenen Selbstverantwortlichkeit. Aus einer scheinbaren Schwäche können wir große Stärke gewinnen. Dieser kognitive Basisvorgang sollte dann seinen Ausdruck finden in einer offenen und ehrlichen Niederschrift, etwa zu den Kriterien der Themenwahl, der präzisierten Fragestellung, der gewählten Methode, den Kriterien der Quellenwahl, den Thesen und Schlussfolgerungen. Damit ist bereits eine zentrale Forderung von Wissenschaft erfüllt, nämlich die nachhaltige Nachvollziehbarkeit meiner Arbeitsweise und meiner Interpretationen.[36] Das Projekt stellt dann einen weiteren Beitrag dar zu einer niemals endenden Diskussion, zu einer Wissenschaft, die sich als endlose Folge von Interpretationen zu begreifen hat.[37]

Auf diesem Weg sind einige Arbeitsschritte hilfreich. So ist die Trennung von Forschungsebene und Quellenebene unerlässlich, um die analytische Distanz zum Forschungsthema aufrechterhalten zu können. Das klingt einfacher gesagt als getan, zumal die Übergänge durchaus fließend ausfallen können. So ist eben auch die Forschungsliteratur von Historikern zeitlich einzuordnen, zu historisieren, also zu hinterfragen. Einzig meine möglichst präzise Fragestellung als rote Richtschnur entscheidet, wen, mit welchen Ideen und Konzepten, mit welchen Ansätzen ich in meine Kognitionsstube hineinlasse und somit auf einer Erkenntnisebene mit mir stelle. Deshalb stehen zum Beispiel die gängigen Meistererzählungen, die üblichen Periodisierungen und jede Form von Standardinterpretation (z. B. „Absolutismus“ oder „Aufklärung“) auf meinem Prüfstand. Wohlgemerkt: Es geht lediglich darum, solche allseits eingeübten, in Schule und Universität eintrainierten und von Historikergeneration zu Historikerinnengeneration gleichsam biologisch-kulturell weitervererbten Angebote nicht als endgültige Wahrheiten, sondern als Konstrukte, als Vorschläge zu betrachten und sich jeweils selbst zu entscheiden, ob ich damit arbeiten möchte; wiederum geht es also dabei nicht um die Einbahnstraßen-Kategorien falsch oder richtig, sondern eher um unpassend oder passend. Diese stetige Wachsamkeit ist gewiss anstrengend und eine durchgängige, vollständige Umsetzung wohl kaum zu erreichen. Dennoch genügen auch kleine Schritte, um zu erstaunlichen Einsichten zu kommen.

Wie beim Thema Sprache und Semantik bereits angemerkt, erfordert es ein hohes Maß an Umsicht und Aufmerksamkeit, mit Worten und Sätzen reflektiert umzugehen, um das letztlich nicht wirklich beherrschbare Eigenleben der Bedeutungen innerhalb bestimmter Grenzen zu halten. Eine besondere rote Linie stellt die Differenz von Forschungsbegriff und Quellenbegriff dar.[38] Auf den ersten Blick verbirgt sich hinter diesem Begriffspaar ein beinahe klassischer Lehrsatz für die Erstsemester eines Geschichtsstudiums. Ein Quellenbegriff ist ein Wort, ein Begriff aus einer Quelle. Dieser stellt einen sprachlich gefassten Tatbestand dar, der sich in den schriftlichen Hinterlassenschaften der Zeitgenossen widerspiegelt und ein geronnenes Substrat von sozialem Sinn ist. Ein Forschungsbegriff wiederum wird von Historikerinnen geprägt, also von Menschen, Forschern, die sich mit einer bestimmten Epoche befassen und diesen Begriff zum Beispiel als Analyseinstrument, zur Erklärung komplexer Sachverhalte nutzen. Damit stellt dieser Forschungsbegriff das Kondensat unterschiedlicher Diskurse dar, die wissenssoziologisch determiniert und voneinander separiert sind. Diese Begriffe reflektieren damit nicht nur den jeweils vorhandenen Kenntnisstand der Forschung, sondern spiegeln ebenso die Lebenswelt der Forscherinnen (die somit in dieser Hinsicht auch zugleich Akteure sind) und deren potenziell möglichen Interpretationsrahmen wider, der wiederum den analysierenden Blick auf die Quelle, auf den Quellenbegriff, definiert.

Die Vermischung beider Begriffe ist deshalb auch problematisch. Einmal las ich in einer Hausarbeit über die Verfolgung von Frauen in der Frühen Neuzeit den Halbsatz: „und dann wurde die Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt“. Ich fragte den Studierenden in der anschließenden Besprechung, woher er denn wisse, dass es sich um eine Hexe gehandelt habe und was das denn eigentlich sei, eine Hexe? Der Studierende hat damit einen beinahe klassischen Fehler begangen, der immer wieder auch professionellen Historikern unterläuft. Er hat eine Äußerung von Akteuren (in diesem Fall aus dem 17. Jahrhundert) übernommen und diese zu seiner eigenen gemacht. Er hat damit (unfreiwillig) eine bestimmte Position bezogen (nämlich Frauen in der Perspektive bestimmter Vertreter der Obrigkeit aus ökonomischen und herrschaftstechnischen Motiven heraus als „Hexen“ zu delegitimieren) und sich somit zum Gehilfen, zum Sprachrohr des Urhebers einer bestimmten Quelle aus jener Zeit gemacht.

Mag dieses Problem bei derart fern anmutenden Begriffen noch überschaubar sein, so wird es diffiziler, wenn die untersuchte Epoche chronologisch weniger lange zurückliegt. So werden immer wieder verschiedene Wortsemantiken aus der Zeit des nationalsozialistischen Deutschland oder der DDR zu unreflektiert benutzt („Selektion“, „Volksgemeinschaft“, „Aufklärung“) und somit Quellenbegriffe (ungewollt) in die eigene Sprachpraxis transformiert.

Dabei gilt der Grundsatz: Je weniger gegenständlich ein Begriff ist, desto vorsichtiger sollte man damit umgehen. Realien wie Stuhl, Haus, Auto oder Uniform haben auf den ersten Blick eine relativ gering ausgeprägte Semantikvarianz (die aber gleichwohl besteht). Dagegen sind ideologisch belastete, mit gesellschaftlichen und politischen Kontexten aufgeladene Begriffe wie Freiheit, Volk, Familie, Nation, Gewalt oder Ehre semantisch weitaus komplexer. Zudem taucht das Problem der grafisch identischen Worte auf. Man könnte meinen, wenn um 1815 in den Quellen von „Freiheit“ die Rede ist, dass diese „Freiheit“ dann auch jene ist, die wir uns heute (genauer: ich mir) darunter vorstellen. Leider ist das aber eben nicht so einfach. Nicht ohne Grund wurde mit den „Geschichtlichen Grundbegriffen“[39] vor einigen Jahrzehnten ein Nachschlagewerk geschaffen, das der historischen Semantik Rechnung tragen soll. Im Falle von „Freiheit“ zeigt sich, dass es ganz verschiedene zeit- und wertgebundene Vorstellungen von Freiheit gibt, etwa eine idealistische, eher unpolitisch gemünzte, oder eine republikanische, politische Vorstellung von Freiheit im Sinne einer Mitbestimmung. Auch die Semantik „Volk“ wird von Akteuren eingesetzt, um bestimmte Bevölkerungsgruppen auszuschließen, andere wiederum einzubeziehen. Ist der Forscher oder die Forscherin hier unbekümmert und unreflektiert, kann das schnell in die hermeneutische Sackgasse führen. Die Gefahr besteht dann weniger in dem stark abnehmenden wissenschaftlichen Ertrag der Untersuchung, sondern vielmehr darin, dass hier ungewollt Werthaltungen der untersuchten Akteure transportiert werden.

Das besonders Herausfordernde an dem Begriffspaar Quellenbegriff vs. Forschungsbegriff ist aber letztlich, dass die Differenz-Grenzen wechseln, sich verlagern. Je nach Fragestellung, je nach Perspektive des Forschers, der Forscherin, wandeln sich vermeintliche Forschungsbegriffe zu Quellenbegriffen (zuweilen auch in die andere Richtung). Wenn man etwa zur NATO forschen will, geraten alle diesbezüglichen Unterlagen zu Quellen, werden Politiker oder Militärs im Kontext der NATO zu Akteuren, die es einzuordnen, zu historisieren gilt. Selbst „NATO“ wird dann zum Quellenbegriff. Alle offiziellen Verlautbarungen wären folglich Quellen und demnach mit allen Regeln der Quellenkritik zu behandeln. Streng genommen gilt es dann auch, in eine analytische Distanz zur „NATO“ zu treten. Bei diesen Themen kann die Forschungsbasis schon ziemlich übersichtlich aussehen. Vermutlich würde man sogar ein neues Begriffsinstrumentarium entwickeln müssen, um analytische Kategorien (also Forschungsbegriffe) bilden zu können.

Forschungs- und Quellenbegriff sind somit relationale Beziehungsanzeiger. Der Forscher/die Forscherin fixiert über die Definition seines/ihres Standpunkts (Themen- und Fragestellung) die jeweilige Zuordnung. Es gilt, sich der eigenen Gebundenheit klar zu werden, zu verstehen, dass man eigentlich immer beides ist, Forscher und Akteurin. Diese kognitive Einsicht ist ein zentraler Bestandteil, der dann auch in schriftlicher Form entsprechend angezeigt werden sollte.[40]

Die Geschichtswissenschaft hat sehr lange Zeit die dringende Notwendigkeit der Selbstreflexion, der Selbstthematisierung nicht (an)erkennen wollen, die allermeisten Historiker und Historikerinnen lehnen dies auch heute noch empört ab. Erst in jüngster Zeit sind hier erfreuliche Änderungen erkennbar: Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Motiven heraus haben etwa Valentin Groebner und Stefan Haas, Clemens Wischermann oder Thomas Etzemüller, Letztere mit ihren Sammelbänden, wichtige Teilaspekte herausgegriffen.[41]

Zweiter Schwerpunkt in der Dreierkonstellation ist die Quelle. Sie steht relational zwischen dem Untersuchungsgegenstand, also den Akteuren der Vergangenheit, auf der einen und dem Historiker auf der anderen Seite. Die Quelle fungiert hier als Sinnträger von Bedeutungszuweisungen, als Kommunikat und Abdruck zwischen den Welten, zwischen dem Bezeichneten, dem Geschehenen, den Akteuren, und mir, dem Betrachter, dem Bezeichner.

Es ergeben sich zentrale Konsequenzen aus diesen Überlegungen: zum einen, basierend auf der Universalität vergangener Zeiten, eine radikale Ausweitung des Quellenbegriffs, zum anderen die Aufdeckung der subjektivierenden Aspekte der Quelle und schließlich die daraus resultierende Notwendigkeit einer umfassenden Quellenkritik über das gängige Ausmaß hinaus.

Vergegenwärtigt man sich die allumfassende Präsenz menschlichen Daseins, so ist eine Eingrenzung der Quellendefinition wenig sinnvoll. Alles, was Menschen je gedacht, gesprochen, geschrieben, bearbeitet, geschaffen haben, kann eine Quelle sein. Ein von Menschenhand bearbeiteter Stein, der Stuhl, auf dem ich sitze, mein Name, die Bezeichnung eines Gebirges oder eines Planeten, der bearbeitete Acker, das voluminöse Fachbuch, der Einkaufszettel, Rituale und Gesten, ein Kraftwerk oder das Internet – hier eröffnet sich eine besondere Universalität des Quellenbegriffs. Damit wäre all jenes keine Quelle, was bisher noch nicht von einem Menschen reflektiert, imaginiert worden ist. Mit anderen Worten: alles kann Quelle sein und somit Indiz für das menschliche Dasein. Entscheidend ist an dieser Stelle, sich die Ubiquität und die Relationalität von Quellen zu vergegenwärtigen. Quellen sind überall, sie werden jedoch nur mittels unseres Erkenntnisinteresses und unserer Fragestellung erst als solche sichtbar.

Die subjektivierenden Aspekte der Quelle resultieren nicht nur aus dem Kontext ihrer Entstehung,[42] sondern vielmehr aus dem komplexen Beziehungsfeld zwischen Quelle und Historiker. Denn es ist dem Betrachter einer Quelle nicht möglich, sich dieser unvoreingenommen zu nähern, sozusagen in einem wertfreien, assoziationslosen Zustand. Wenn ich im Museum eine Gabel des 19. Jahrhunderts ansehe, befindet sich dieses Objekt, diese Sachquelle, immer in einem semantischen Kontextbezug zu mir. Ich erstelle aufgrund meiner eigenen Erlebnisse, aber auch vermittelter kultureller Erfahrungen (egal ob von Freunden, in den Medien, in Schule und Universität, im Lexikon usw.) einen Subjekt-Objekt-Bezug zu mir her: Beide Seins-Welten berühren sich in, über und mit der Quelle, treten in einen unglaublich komplexen, mal mehr, mal weniger herstellbaren Verständigungsprozess. Ich vergleiche, ich erinnere, und spontane und tiefer sitzende Assoziationen werden unweigerlich geweckt. Dieser relationale Sinnzusammenhang zwischen Forscher und Quelle sollte stets beachtet werden; er ist essenziell. Der Subjektivierungsvorgang lässt sich nicht verhindern; er sollte aber möglichst eingehegt werden, etwa durch Offenlegung aller Vor-Überlegungen und durch eine profunde Selbstreflexion von Betrachterin, die nicht nur den eigenen Sozialisationshintergrund beinhaltet, sondern auch eine Überprüfung der gängigen, wirksamen Forschungsdiskurse umfasst.

Die Aufdeckung oder besser Anerkennung der relationalen Wirkmechanismen zwischen Quelle und Historikerin stellt bereits einen wesentlichen Tatbestand der Quellenkritik dar – einer Quellenkritik, die den Betrachter als integralen Bestandteil involviert. Spiegelbildlich gesehen passieren sehr ähnliche Vorgänge „auf der anderen Seite“, zwischen Akteuren und der von ihnen produzierten Quelle. Die Intentionalität, die zur Produktion der Quelle führt oder dazu beiträgt, beruht nicht nur auf bewussten, durchdachten, beabsichtigten Kognitionsprozessen, sondern vor allem auch auf Vergegenständlichungen von sozialem Sinn, die viel eher im Nichtoffensichtlichen liegen.[43]

Diese doppelte Relationalität von Quellen schafft den Rahmen für den analysierenden Blick. Dabei sind folgende Faktoren zu beachten:

Erstens geht es darum, die verschiedenen Semantikebenen zu erfassen. Es gilt die Zeichen zu erkennen, die Informationsträger, den Metatext – und diese hinterlegten Botschaften wiederum vom Medium der Kommunikation, etwa einer Schrift (Text), zu trennen. Nahezu immer beinhaltet die Quelle bewusste, intendierte, vordergründige wie auch unbewusste, hintergründige Botschaften und Informationen. Ähnlich wie bei einer Zwiebel trifft man auf viele Schichten kondensierten Sinns: eingeübte Rituale, herrschende Diskurse, soziale Hierarchien, lebensweltliche Praktiken.[44] Zweitens sollte die Quelle auf ihre Zeitlichkeit, auf ihre strukturellen Kontexte und kulturellen Bezüge sowie auf die Absicht des Urhebers der Quelle überprüft werden (Historizität, Kontextualität, Intentionalität). Die Intentionalität führt drittens zur Binnenlogik der Quelle. Unter der Prämisse, dass jede Quelle eine innere Logik besitzt, die sich nach der Intention des Urhebers richtet, lässt sich die Quelle „lesen“. Bei einem Einkaufszettel besteht die Absicht in dem Wunsch des Urhebers, beim Einkaufen keine Zutat zu vergessen. Entsprechend dieser Intention ergibt sich die Logik, dass etwa die Benennungen von Lebensmitteln listenförmig auftauchen müssen. Der Historiker könnte nun untersuchen, ob die Liste alphabetisch organisiert ist oder nach Gruppierungen der Lebensmittel (Obst, Gemüse, Fleisch) oder nach der inneren Systematik des Supermarkts usw. Genauso kann mit Druckgrafiken, Liebesbriefen, Lexikonartikeln, Gabeln oder Märchen verfahren werden. Die Relationalität der Intentionalität der Quelle mit deren Gattung, Form und Inhalt bildet ein Koordinatensystem, das Historikern eine mehrdimensionale Überprüfung erlaubt. Ein Liebesbrief zum Beispiel, etwa aus dem 17. Jahrhundert, erfordert ganz bestimmte Parameter und formative Vorgaben, wenn er seinen Zweck, die Intention des Urhebers, erfüllen soll. Als Betrachterin kann ich somit die Gattungsspezifika und die Intentionalität in Beziehung zu dem konkret vorliegenden Brief setzen. Was findet sich wieder, was ist Usus, worin gibt es offenbar Abweichungen? Je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse kann sich somit die Authentizität der Quelle erheblich verändern.

Der letzte Schwerpunkt der Dreierkonstellation, die zu untersuchenden Akteure, ist aufgrund der relativen, wechselwirksamen Vernetzung mit den beiden anderen Kräften bereits mehrmals in die Überlegungen einbezogen worden. Deshalb werde ich mich an dieser Stelle auf einen, aber eben durchaus wichtigen Aspekt beschränken.

Im Kern geht es vor allem darum, den Blick auf andere Akteure, auf andere Kulturen, in erster Linie als Spiegelbild unseres Selbst zu verstehen. Erst der vergleichende Blick produziert Einsichten und Erkenntnisse, die zwischen frappierenden Ähnlichkeiten einerseits und verblüffenden Unterschieden andererseits changieren. Dieses irritierend dichte und widersprüchliche Nebeneinander von Fremdheit und Vertrautheit erzeugt überhaupt erst die kognitive Dissonanz, mittels der wir unsere Schlussfolgerungen ziehen können. In welche Richtung das Pendel schlägt, hängt zwar auch von methodischen und hermeneutischen Verfahren ab, vielmehr jedoch von unseren jeweils bewussten und eben auch unbewussten Vorstellungen und Vorannahmen. Wie sehr wir uns dabei leiten lassen von medial vermittelten Vorstellungen, wird z. B. dann deutlich, wenn wir versuchen, einzelne, in den Quellen beschriebene Szenen dramaturgisch umzusetzen: wie verhält sich denn ein Handwerksmeister des 18. Jahrhunderts, eine Dienstmagd des 17. Jahrhunderts? Erst dann wird deutlich, wie wenig wir letztlich wissen, wie sehr wir unsere Wissenslücken mit eben auch unbewussten Vorstellungen aus Spielfilmen, Romanen oder anderen Erzählungen unterlegen, und wie sehr wir gewohnt sind, Menschen lediglich als Funktionsträger wahrzunehmen.

Auch scheinbar übererforschte Akteure wie etwa Otto von Bismarck werden mit derartigen Schablonen bedacht. Wenn wir Akteurinnen nicht, etwa im Sinne des strukturfunktionalistischen Konzepts, als Individuen einebnen und sie in funktional gedachte Handlungs-Kollektive zwingen wollen, sollten wir ihnen eine individuelle Persönlichkeit zubilligen und sie nicht nach Kriterien späterer Historikergenerationen beurteilen. Und nun beginnt erst die eigentliche Herausforderung: Denn das, was ich über mich erfahre im Rahmen meiner Selbstreflexion, das Wechselspiel struktureller Gegebenheiten und individueller Weltwahrnehmung, sollte und muss ich meinen zu untersuchenden Akteurinnen spiegelbildlich ebenfalls zubilligen. Erst dann kann ich mich entscheiden, wo auf der Spiegelungs-Skala von großer Fremdheit oder intimer Vertrautheit ich die untersuchten Akteure mit ihrem Handeln, ihrem Kommunizieren, ihren Hoffnungen, Plänen, Sehnsüchten, Ängsten und Selbstwahrnehmungen positionieren möchte; indem ich also alles vermeintlich vertraut Klingende infrage stelle oder die wiedererkennende Nähe betone.

V. Fazit

Im Zentrum dieses Beitrags steht die hilfreiche Differenzierung des Faches Geschichte in eine stärker darstellende, auf vermeintlich eindeutige und nicht zu hinterfragende, faktenbasierte Geschichtskunde einerseits sowie eine den Erkenntnisprozess stärker ausleuchtende Geschichtswissenschaft andererseits. Speziell die Erweiterung des erkenntnistheoretischen und methodologischen Niveaus beruht auf der grundsätzlichen Anerkennung des sozialkonstruktivistischen Ansatzes und damit der Akzeptanz einer Pluralität von Wahrheit und Eindeutigkeit. Insbesondere die alles durchdringende filternde Rolle und manipulierende Funktion von Sprache und Semantik, von Syntax, Framing und Metaphern, aber auch die kognitionspsychologischen, neurologisch-evolutionären sowie kommunikations- und diskurstheoretischen und wissenssoziologischen Basisergebnisse haben erkennen lassen, dass Vergangenheit als physikalische Größe zu verstehen ist, dass Denken, Schreiben und Reden darüber, Geschichte also, jedoch stets eine Erzählung, einen spezifischen, in Struktur und Aufbau eigengesetzlichen Modus der Kommunikation, darstellt.

Als eine Folge dieser revolutionären kulturwissenschaftlichen Neuorientierung manifestierte sich der sogenannte Cultural Turn, der mit seinen vielfältigen Verästelungen neue thematische, methodische und theoretische Wege ging und dabei andere Fragen als bisher an das empirische Material formulierte. Zentraler Bestandteil dabei war die Abkehr von etlichen Meistererzählungen, die sich entweder eng an Persönlichkeiten oder Ereignisabfolgen orientierten bzw. an strukturfunktionalistischen Herangehensweisen festhielten; stattdessen lag die Perspektive auf konstruierten Zuweisungen und den spezifischen, abweichenden Wahrnehmungen von Akteurinnen.

Doch es gilt, noch einen Schritt weiter zu gehen und die konkrete Umsetzung dieser Wende mittels und über diese kulturwissenschaftlichen Angebote hinaus am Schreibtisch in einem sehr persönlichen Akt zu organisieren. Im Zentrum steht dabei eine intensive Selbstreflexion und damit verbunden die Notwendigkeit, sich der eigenen ambivalenten Präsenz, nämlich sowohl Akteur als auch Historikerin zu sein, bewusst zu werden. Hilfreich sind in diesem Kontext die konsequente Differenzierung in Quellen- und Forschungssprache, ein ubiquitär verstandener Quellenbegriff sowie vor dem Hintergrund des praxeologischen Ansatzes ein systematisch angewendeter analytischer Akteursbegriff.

Ein derartiges Wissenschaftsverständnis kann nicht ohne Konsequenzen für die akademische und, in bestimmten Grenzen, auch die schulische Vermittlung geschichtlicher Inhalte ausfallen. Mir ist bei den folgenden knappen Überlegungen durchaus bewusst, dass ich kein theoretischer Fachdidaktiker bin,  und ich weiß, dass es bereits eine lange Diskussion unter den Didaktikerinnen gibt, die auch Ideen zu sozialkonstruktivistischen Anwendungen enthalten.[45] An dieser Stelle kommt es mir aber darauf an, eben nicht den didaktischen Blickwinkel („Kompetenz historischen Denkens“) als Ausgangspunkt zu wählen, sondern den oben skizzierten fachwissenschaftlichen Wandel und die erkenntnistheoretischen Anstöße als Startblock zu nehmen und nach den daraus resultierenden didaktischen Konsequenzen zu fragen.

Es fallen wiederum drei Schwerpunkte ins Auge: das Üben und Trainieren von Toleranz und Ambivalenz erstens, die Begrenzung asymmetrischer Lehrsituationen zweitens sowie die Vermittlung einer grundlegenden Medien- und Kulturkompetenz drittens.

In den Schulgesetzen aller Bundesländer ist nahezu gleichlautend ein Passus zu Toleranz und Offenheit festgeschrieben: „Die Schule wahrt die Freiheit des Gewissens sowie Offenheit und Toleranz gegenüber unterschiedlichen kulturellen, religiösen, weltanschaulichen und politischen Wertvorstellungen, Empfindungen und Überzeugungen. Keine Schülerin und kein Schüler darf einseitig beeinflusst werden. Keine Schülerin und kein Schüler darf wegen der Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, des Geschlechts, der sexuellen Identität, der sozialen Herkunft oder Stellung, der Behinderung, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung bevorzugt oder benachteiligt werden. Einer Benachteiligung von Mädchen und Frauen ist aktiv entgegenzuwirken.“[46]

So absolut wichtig und wesentlich für eine demokratisch orientierte, liberale Gesellschaft diese Grundsätze auch sind, so sehr lassen die stetige Wiederholung wie auch nimmermüde Klagen von LehrerInnen[47] leider an ihrer nachhaltigen Realisierung zweifeln. Gerade angesichts dieser fatalen Entwicklung kann einer ambitionierten Geschichtswissenschaft besondere Bedeutung zukommen, die mit ihren erkenntnistheoretischen und methodologischen Instrumentarien unmittelbar hier anzusetzen vermag.

In der Tat zählen das Anerkennen und Aushalten von Alternativen, Uneindeutigkeiten, Pluralitäten und Ambivalenzen zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Hier treffen lebensweltliche Erfahrungen und geschichtswissenschaftliche Forschung im Geiste des Sozialkonstruktivismus und des Cultural Turn unmittelbar zusammen. Gerade weil das problematische Zustandekommen von Denkschablonen, von begrenzenden Meinungs- und Erkenntnisgenerierungen aufgedeckt werden kann, ließe sich eine (Spiegelungs-)Brücke bauen zu anderen Kulturen, zu anderen Meinungen und Positionen.[48] Dies stellt sicherlich einen erheblichen Kraftakt dar, gelten Menschen „wie die Psychologie das nennt, tendenziell als ambiguitätsintolerant“.[49]

Der zweite Schwerpunkt umfasst die möglichst weitgehende Aufhebung der üblichen asymmetrischen Lehrsituationen. Studierende, aber eben auch Schülerinnen sollten als Partner bzw. Partnerinnen betrachtet und Lehrende nicht als abgehobene Instanz, die einsam über Richtig und Falsch entscheidet, interpretiert werden. Wiederum spielt dabei der sozialkonstruktivistische Ansatz, die Doppelung von Akteur und Historiker (in diesem Fall also eines selbstreflektierten Dozenten) die zentrale Rolle: es geht darum, eben auch abweichende Meinungen zu akzeptieren und somit intensiv das Abwägen differierender Sichtweisen zu diskutieren. Dies beinhaltet ebenfalls, sowohl den Studierenden grundsätzlich die Wahl des Themas zu gestatten als auch dezidiert die Verwendung des Personalpronomens „Ich“ zuzulassen.

All dies kulminiert dann drittens in der Vermittlung einer grundlegenden Medien- und Kulturkompetenz. Hierzu zählt die universale Infragestellung von Informationen (im Sinne eben ihres Konstruktionscharakters), vor allem auch von medial vermittelten Informationen, seien es Nachrichtensendungen im Fernsehen oder als seriös geltende Printmedien, seien es Gerüchte oder Posts auf Facebook, Instagram oder Twitter. Es geht im Kern darum, das Andere im Eigenen zu erkennen, die jeweiligen Gemeinsamkeiten in unterschiedlichen Kulturen aufzudecken und sich vor anderen Weltinterpretationen nicht zu fürchten, sondern diese als Bereicherung, als Alternative zu empfinden.

Das Dilemma besteht nun darin, Geschichtskunde und Geschichtswissenschaft zu gewichten. Möglicherweise sollte Geschichtswissenschaft, verstanden als umfassende, sozialkonstruktivistische Kulturwissenschaft, viel stärker, viel umfassender ausgelegt und Geschichtskunde in der bisherigen Form an Schulen und Universitäten grundlegend überdacht werden.


[1]                           Zu dieser Thematik bereite ich eine Monografie vor. – Ich habe versucht, eine gendergerechte Sprache anzuwenden, und bin hier semantisch flexibel vorgegangen. Sollte mir dies an der einen oder anderen Stelle misslungen sein, bitte ich um Nachsicht.

[2]                           Vgl. bereits frühere Überlegungen (2012): Ralf Pröve, Geschichte als Wissenschaft, http://ralf-proeve.de/geschichtswissenschaft/ [17. 2. 2020].

[3]                           Clemens Wischermann, Die historische „Wirklichkeit“ zwischen Schicksalhaftigkeit und Eigensinn, in: Stefan Haas/Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 2015, S. 101–112, hier S. 112.

[4]                           Vgl. im Folgenden den Wikipedia-Eintrag „Wissenschaft“, https://de.wikipedia.org/wiki/Wissenschaft [17. 2. 2020]. Maßgeblich mitbestimmt hat diese Auffassung z. B. Karl Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, 4. Aufl., Hamburg 1995.

[5]                           Vgl. hierzu Ralf Pröve, Wer und was lässt hier sprudeln? Bemerkungen zur Quelle, http://ralf-proeve.de/quellendefinition/ [17. 2. 2020].

[6]                           Dahinter verbirgt sich die Vorstellung von Quellen als eindeutige Trennlinien von wahr und unwahr. Der Begriff wurde vermutlich von dem Bielefelder Begriffshistoriker und Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck (1923–2006) eingeführt. Quellen, so Koselleck, „verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewusstseinsanalysen: all das und vieles mehr lässt sich durch Quellenkritik aufdecken“. Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Reinhart Koselleck/Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, S. 45 f.

[7]                           Armin Heinen, Technomorphie, Medialität und Geschichtlichkeit. Die „Wirklichkeiten“ der HistorikerInnen – oder – ANT als neuer Zugang zur Historiographiegeschichte?, in: Haas/Wischermann (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Geschichte, S. 205–222, hier S. 212 f.

[8]                           Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Kritik sich nicht gegen die medial inszenierte Popularisierung von Geschichtskulturen im Allgemeinen, sondern sich lediglich an deren mangelnden alternativen Interpretationsangeboten und der unzureichenden Reflexion der Erkenntnisgenerierung ausrichtet.

[9]    Ernst von Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Heinz Gumin/Heinrich Meier (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 2010, S. 9–39; Heinz von Foerster, Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben. Beiträge zum Konstruktivismus, München 2008, S. 39–60.

[10] Ludwig Jäger, Ferdinand de Saussure zur Einführung, Hamburg 2010.

[11] Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin 2011; Ralf Bohn/Dieter Fuder (Hrsg.), Baudrillard. Simulation und Verführung, München 1994.

[12] Benjamin Lee Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek 2008; Noam Chomsky, Sprache und Geist, Frankfurt a. M. 1999.

[13] Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus (Logisch-philosophische Abhandlung), Frankfurt a. M. 2006 (1921).

[14] John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek 1997.

[15] George Lakoff/Mark Johnson, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 2011.

[16] George Lakoff/Elisabeth Wehling, Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2014; Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016.

[17] Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, London 1962.

[18] Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1991; Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2012; Achim Landwehr (Hrsg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010.

[19] Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1991.

[20] Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1967; Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969.

[21] Vgl. dazu etwa: Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Was wissen und können Hirnforscher heute?, in: Gehirn und Geist 6 (2004), S. 30–37; sowie Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“, in: Psychologie heute 3 (2014). Vgl. dazu www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neuro-wissenschaft [14. 2. 2018]. Vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 2013.

[22] Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? München 1981; ders., Wirklichkeitsanpassung oder angepasste „Wirklichkeit“? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Heinz Gumin/Heinrich Meier (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 2010, S. 89–107.

[23] Humberto Maturana/Francisco Javier Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, Frankfurt a. M. 2009.

[24]                        Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 2009 (La condition postmoderne, Paris 1979).

[25]                        Obwohl die grundsätzliche Basisvorannahme längst nicht nur die Kultur- und Geisteswissenschaften betrifft, sondern letztlich alle Disziplinen, also auch jene aus dem naturwissenschaftlichen Kontext, liegt die Perspektive im Weiteren auf den Geistes- und Kulturwissenschaften.

[26]                        Einen ersten Überblick verschafft Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006.

[27]                        Vgl. Stefan Haas, Theory Turn. Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft, in: Haas/Wischermann (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Geschichte, S. 11–44, hier S. 11.

[28]                        Noch immer gut lesbar und den Trennungsprozess von Strukturfunktionalismus und Kulturalismus Mitte der 1990er-Jahre prägnant beschreibend: Reinhard Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturgeschichte?, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 445–468, bes. S. 445–453.

[29]                        Hier folge ich Pierre Bourdieu, Jean Kaufmann, Philipp Schulte und Judith Butler, deren Grundideen ich zusammen mit Julia Wille in den letzten Jahren weiter ausgebaut habe. Vgl. dazu Ralf Pröve, Akteure, http://ralf-proeve.de/akteure/ [17. 2. 2020].

[30]                        Francisca Loetz, Sprache in der Geschichte. Linguistic Turn vs. Pragmatische Wende, in: Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 2 (2003), S. 87–103, hier S. 88.

[31] Vgl. dazu etwa Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1993.

[32] Hilfreiche Erläuterungen bietet Ingrid Gilcher-Holtey, Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 111–130.

[33] Matrix (1999), Matrix Reloaded (2003), Matrix Revolutions (2003), Regie: Lana Wachowski (geboren als Larry Wachowski), und Lilly Wachowski (geboren als Andy Wachowski), produziert von Joel Silver.

[34] Vgl. etwa Alexander Grau, Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung, 4. Aufl., München 2019; oder Alexander Ulfig, Wege aus der Beliebigkeit. Alternativen zu Nihilismus, Postmoderne und Gender-Mainstreaming, Baden-Baden 2016.

[35]                        Wie Haas, Theory Turn, S. 27, treffend formuliert hat: „Der Cultural Turn thematisiert nicht nur Sachverhalte der Lebenswelt, er ist primär ein Diskurs über die Generierung von Wissen und die konstruktiven Bedingungen, die bei dieser eine zentrale Rolle spielen. Wissen wird nun als konstruiert oder als konstitutiv von Faktoren der Quellen-, Methoden-, Narrativwahl und der Kontingenz wissenssoziologischer Umgebungsvariablen abhängig betrachtet.“

[36]                        Hierzu Haas, Theory Turn, S. 27, prägnant: „Dies wiederum bedeutet, dass jede individuelle wissenschaftliche Arbeit Auskunft geben muss über ihre Entscheidung grundlegender wissenschaftstheoretischer Fragen und damit der Gültigkeitsbedingungen ihrer Aussagen.“

[37]                        Insofern gehört stets auch ein gewisses Maß an Demut dazu, dieses anzuerkennen und sich nicht selbst auf einen unanfechtbaren Erkenntnisthron zu setzen. Ein Beispiel: So sehr ich seine Motive anerkenne und auch den Furor nachvollziehen kann, etliche Mängel von Geschichtsdarstellungen anzuprangern, so problematisch ist es dann eben doch, sich selbst als Lösung der Probleme zu begreifen. Vgl. hier Jörg Baberowski, Unsägliche TV-Dokus. Geschichte für Trottel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 5. 2014.

[38]                        Vgl. hierzu Ralf Pröve, Forschungsbegriff vs. Quellenbegriff, http://ralf-proeve.de/forschungsbegriff/, [17. 2. 2020].

[39]                        Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997.

[40]                        So lässt sich erstens strikt mit Anführungszeichen arbeiten, womit diese Begriffe nicht als die eigenen ausgegeben, sondern eben als Quellenbegriff kenntlich gemacht werden. Man kann zweitens mit Umschreibungen arbeiten (etwa mit Wendungen wie: laut Aussage von, sogenannte, als XY geltende, usw.). Man kann drittens mit einer eingängigen Begriffsklärung arbeiten und sich und dem Leser oder der Leserin somit eine Arbeitsdefinition verschaffen.

[41]                        Zu den Pionierleistungen gehört Valentin Groebner, Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung, Konstanz 2012. Vgl. zudem Haas/Wischermann (Hrsg.), Wirklichkeit der Geschichte, oder Thomas Etzemüller (Hrsg.), Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Bielefeld 2019.

[42]                        Hinzu kommen die Umstände der Verschriftlichungsfaktoren, also das Problem des Wahrnehmungsfilters der Akteure. Es wurde ja nur das notiert, aufgeschrieben, was erstens der Schreiber (der/die ja ohnehin nicht repräsentativ für die Zeit sein muss) als außergewöhnlich empfunden hatte, und zweitens der Sachverhalt fixiert, mit dessen Hilfe sich eine Absicht, ein Zweck verknüpfte (Wohlwollen der Obrigkeit, Steuererleichterung, militärische Hilfe, Delegitimation des Gegners usw.).

[43]                        Vgl. dazu etwa Loetz, Sprache, S. 90 f.: „Die Sprechenden gehen davon aus, dass sie zusammen mit den Adressierten eine sprachliche Gemeinschaft bilden. Eine kommunikative Handlung gilt dann als ‚gelungen‘, wenn die Adressierten verstehen, was die Sprechenden wollen. ‚Erfolgreich‘ ist die Sprechhandlung hingegen nur dann, wenn die Adressierten die Intentionen der Sprechenden auch erfüllen.“

[44]                        Loetz, Sprache, S. 88: „Da Welt ausschließlich sprachlich verfasst ist, existiert keine Welt, die es hinter der Sprache zu entdecken gäbe. Texte sind also sprachliche Gebilde, die vielfältige Versionen von Welt darstellen, ohne dabei in einer eindeutigen Beziehung zur Wirklichkeit zu stehen. Hieraus folgt für die Interpreten dieser ‚Texte‘, dass sie aus ihren Vorlagen genauso wenig die eine gültige, in einer tieferen Textschicht verborgene ‚richtige‘ Darstellung oder Meistererzählung freilegen, wie sie ihre eigene Darstellung den Regeln sprachlicher Gestaltung entziehen können.“

[45]                        Zu nennen ist hier in erster Linie das FUER-Konzept (Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins). Vgl. etwa die Schriften von Hans-Jürgen Pandel, Jörg van Norden, Hilke Günther-Arndt, Meik Zülsdorf-Kersting, Monika Fenn oder Michael Sauer. Als Beispiel für die Ansätze mag dienen: (AutorenInnenkollektiv), Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts „Historical Thinking – Competencies in History“, Münster 2017.

[46]                        Neufassung des Brandenburgischen Schulgesetzes vom 2. 8. 2002, § 4 Ziele und Grundsätze der Erziehung und Bildung Absatz 4 u. 5, https://bravors.brandenburg.de/br2/sixcms/media.php/76/GVBl_I_08_2002.pdf [17. 2. 2020].

[47]                        Ein bezeichnendes Beispiel liefert hier der Erfahrungsbericht einer Lehrerin, die Toleranz und Respekt im Schullalltag vermisst und den Schülern jegliche Sozialkompetenz abspricht: Ich bin Lehrerin und habe Angst vor der Zukunft unserer Gesellschaft, https://ze.tt/ich-bin-lehrerin-und-habe-angst-vor-der-zukunft-unserer-gesellschaft/?utm_campaign=ref&utm_content=zett_zon_parkett_teaser_x&utm_medium=fix&utm_source=zon_zettaudev_int&wt_zmc=fix.int.zettaudev.zon.ref.zett.zon_parkett.teaser.x [30. 4. 2019]. Bundesweites Aufsehen erregte in dieser Hinsicht der verzweifelte „Brandbrief“ der Lehrerschaft der Rütli-Hauptschule im März 2006 beim Berliner Bildungssenator, in dem die Schließung der Schule verlangt wurde, weil die Gewalt durch Schüler nicht mehr eingedämmt werden könne. Vgl. dazu auch Knüppel, Krampen und Konflikte. Ein ehemaliger Rütli-Schüler erinnert sich an seine Kindheit in Neukölln, in: Berliner Zeitung, 8. April 2006.

[48]                        Wie Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005, S. 90, so treffend formuliert hat, erscheint Ambiguität inzwischen „als die einzige Kraft, die imstande ist, das destruktive, genozidale Potential der Moderne einzuschränken und zu entschärfen“.

[49]                        Vgl. dazu auch Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018, S. 15.