Quellendefinition (2012)

Wer und was lässt hier sprudeln? Bemerkungen zur Quelle (2012)

von  Ralf Pröve

Quellen befinden sich wohlbehütet im Archiv oder im Museum, unter Quellen werden Schriftstücke verstanden, Quellen sind materiell fassbar. Medien und Schulgeschichtsbücher, aber auch immer wieder Dozenten an den Universitäten tragen erheblich zu dieser gängigen Vorstellung bei, die nicht nur beim interessierten Publikum, sondern auch bei Studierenden weit verbreitet ist.

 Eine direkte Folge dieser Annahmen ist die Charakterisierung von Quelle als Ausweis für Wahrheit, für Objektivität, für Authentizität. Falls Fehlinterpretationen doch auftauchten, dann hätten die Verfasser der Quelle eben gelogen und/oder der Forscher habe unzureichend Quellenkritik geübt.

 Entsprechend ostentativ beanspruchen Historiker meist eine besondere Aussagekraft und Allgemeingültigkeit ihrer Schlussfolgerungen – da sie sich ja eben auf eine Quelle (im Sinne eines vermeintlichen Wahrheits-Beweises) beziehen. Sie verweisen auf ihre entsprechende empirische Grundlage und dem gerne und viel zitierten Vetorecht der Quelle.

 Diese Vorstellungen werden von den üblichen, an den Universitäten nach wie vor vermittelten älteren Quellenkategorien Tradition/Überrest oder Primärquelle/Sekundärquelle eher noch weiter verstärkt. Selbst eine formaltypologische Einteilung in Aggregatzustände (Sachquelle, Schriftquelle, abstrakte Quelle) bringt keine grundsätzlich neue Perspektive. Denn die Quelle wird auch hier jeweils isoliert betrachtet, als Entität, die scheinbar aus sich selbst heraus vermeintlich objektive Informationen sprudeln lässt.

 Vielmehr gilt es, die Quelle als Teil einer wechselwirkenden Dreierkonstellation zu begreifen. In dieser Konstellation steht die Quelle relational zwischen dem Untersuchungsgegenstand, also den Akteuren vergangener Zeiten, egal ob diese fünf Minuten oder 5000 Jahre zurückliegen, auf der einen und dem Betrachter, dem Historiker, auf der anderen Seite. Die Quelle fungiert hier als Sinnträger von Bedeutungszuweisungen, als Kommunikat und Abdruck zwischen den Welten, zwischen dem Bezeichneten, dem Passierten, den Akteuren, und mir, dem Betrachter, dem Bezeichner.

 Drei wichtige Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen: erstens, basierend auf der Universalität vergangener Zeiten, eine radikale Ausweitung des Quellenbegriffs, zweitens die Aufdeckung der subjektivierenden Aspekte der Quelle und drittens die daraus resultierende Notwendigkeit einer umfassenden Quellenkritik.

Vergegenwärtigt man sich die allumfassende Präsenz menschlichen Daseins, so ist eine Eingrenzung der Quellendefinition wenig sinnvoll. Alles, was Menschen je gedacht, gesprochen, geschrieben, bearbeitet, geschaffen haben, kann eine Quelle sein. Ein von Menschenhand bearbeiteter Stein, der Stuhl, auf dem ich sitze, mein Name, die Bezeichnung eines Gebirges oder eines Planeten, der bearbeitete Acker, das voluminöse Fachbuch, der Einkaufszettel, Rituale und Gesten, ein Kraftwerk oder das Internet – hier eröffnet sich eine besondere Universalität des Quellenbegriffs. Damit wäre all jenes keine Quelle, was bisher noch nicht von einem Menschen reflektiert, imaginiert worden ist. Mit anderen Worten: alles kann Quelle sein und somit Indiz für das menschliche Dasein. Entscheidend ist an dieser Stelle, sich die Ubiquität und die Relationalität von Quellen zu vergegenwärtigen. Quellen sind überall, sie werden jedoch nur mittels unseres Erkenntnisinteresses und unserer Fragestellung erst als solche sichtbar.

Die subjektivierenden Aspekte der Quelle resultieren nicht nur aus dem Kontext ihrer Entstehung, sondern vielmehr aus dem komplexen Beziehungsfeld zwischen Quelle und Historiker. Denn es ist dem Betrachter einer Quelle nicht möglich, sich dieser unvoreingenommen zu nähern, sozusagen in einem wertfreien, assoziationslosen Zustand. Wenn ich im Museum eine Gabel des 19. Jahrhunderts betrachte, befindet sich dieses Objekt, diese Sachquelle, immer in einem semantischen Kontextbezug zu mir. Ich erstelle aufgrund meiner eigenen Erlebnisse, aber auch vermittelter kultureller Erfahrungen (egal ob von Freunden, in den Medien, in Schule und Universität, im Lexikon usw.) einen Subjekt-Objekt-Bezug zu mir her: Beide Seins-Welten berühren sich in, über und mit der Quelle, treten in einen unglaublich komplexen, mal mehr, mal weniger herstellbaren Verständigungsprozess. Ich vergleiche, ich erinnere, spontane und tiefer sitzende Assoziationen werden unweigerlich geweckt. Dieser relationale Sinnzusammenhang zwischen Forscher bzw. Forscherin und der Quelle sollte stets beachtet werden; er ist essentiell. Dieser Subjektivierungsvorgang lässt sich nicht verhindern; er sollte aber möglichst eingehegt werden, etwa durch Offenlegung aller Vor-Überlegungen und durch eine profunde Selbstreflektion des Betrachters, die nicht nur seinen eigenen Sozialisationshintergrund beinhaltet, sondern auch eine Überprüfung der gängigen, wirksamen Forschungsdiskurse umfasst.

Die Aufdeckung oder besser Anerkennung der relationalen Wirkmechanismen zwischen Quelle und Historiker stellt bereits einen wesentlichen Tatbestand der Quellenkritik dar. Eine Quellenkritik, die den Betrachter als integralen Bestandteil involviert.

Spiegelbildlich gesehen passieren sehr ähnliche Vorgänge „auf der anderen Seite“, zwischen dem Akteur und der von ihm produzierten Quelle. Die Intentionalität, die zur Produktion der Quelle führt oder dazu beiträgt, beruht nicht nur auf bewussten, durchdachten, beabsichtigten Kognitionsprozessen, sondern vor allem auch auf Vergegenständlichungen von sozialem Sinn, die viel eher im Nichtoffensichtlichen liegen.

Diese doppelte Relationalität von Quellen schafft den Rahmen für den analysierenden Blick. Drei Faktoren sind zu beachten.

Erstens geht es darum, die verschiedenen Semantikebenen zu erfassen. Es gilt die Zeichen zu erkennen, die Informationsträger, den Metatext – und diese hinterlegten Botschaften wiederum vom Medium der Kommunikation, etwa einer Schrift (Text), zu trennen. Nahezu immer beinhaltet die Quelle bewusste, intendierte, vordergründige als auch unbewusste, hintergründige Botschaften und Informationen. Ähnlich wie bei einer Zwiebel trifft man auf viele Schichten kondensierten Sinns: eingeübte Rituale, herrschende Diskurse, soziale Hierarchien, lebensweltliche Praktiken. Zweitens sollte die Quelle auf ihre Zeitlichkeit, auf ihre strukturellen Kontexte und kulturellen Bezüge sowie auf die Absicht des Urhebers der Quelle überprüft werden (Historizität, Kontextualität, Intentionalität). Die Intentionalität führt drittens zur Binnenlogik der Quelle. Unter der Prämisse, dass jede Quelle eine innere Logik besitzt, die sich nach der Intention des Urhebers richtet, lässt sich die Quelle „lesen“. Bei einem Einkaufszettel besteht die Absicht in dem Wunsch des Urhebers, beim Einkaufen keine Zutat zu vergessen. Entsprechend dieser Intention ergibt sich die Logik, dass etwa die Benennungen von Lebensmitteln listenförmig auftauchen müssen. Der Historiker könnte nun untersuchen, ob die Liste alphabetisch organisiert ist oder nach Gruppierungen der Lebensmittel (Obst, Gemüse, Fleisch) oder nach der inneren Systematik des Supermarkts usw. Genauso kann mit Druckgraphiken, Liebesbriefen, Lexikonartikeln, Gabeln oder Märchen verfahren werden. Die Relationalität der Intentionalität der Quelle mit deren Gattung, Form und Inhalt bildet ein Koordinatensystem, das dem Historiker eine mehrdimensionale Überprüfung erlaubt. Ein Liebesbrief zum Beispiel, etwa aus dem 17. Jahrhundert, erfordert ganz bestimmte Parameter und formative Vorgaben, wenn er seinen Zweck, die Intention des Urhebers, erfüllen soll. Als Betrachter kann ich somit die Gattungsspezifika und die Intentionalität in Beziehung setzen mit dem konkret vorliegenden Brief. Was findet sich wieder, was ist Usus, worin gibt es offenbar Abweichungen? Je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse kann sich somit die Authentizität der Quelle erheblich verändern.

 Insofern erscheint es weitaus sinnvoller, Quellen aggregatübergreifend nach ihren Gattungen und Intentionen zu fassen, statt Typologien aufzustellen.